TEXT: INGO JUKNAT
»Gibt’s was zu feiern?« Andi Toma schaut auf die Reihe von Sektgläsern am Boden. Manche sind leer, manche zur Hälfte gefüllt, andere randvoll. Die Gläser kleben auf einem Holzbalken. Es sieht nicht aus, als wüsste Toma, was das Ganze bedeutet. Einer der Streicher bewegt seinen Geigenbogen über das erste Glas, dann über das zweite. Es klingt, als würde jemand auf einer Kreidetafel herumquietschen, nur wesentlich lauter. Die Gesichter verziehen sich. »Sehr unangenehm«, findet Toma.
Als Musiker bei Mouse in Mars ist er eigentlich an Klangexperimente gewöhnt. Seit den frühen 90er Jahren brüten er und sein Kollege Jan Werner unkonventionelle Sounds aus. Neben Kreidler gelten Mouse on Mars als bekannteste Vertreter der rheinischen Elektronik, wenn man von den Übervätern, Kraftwerk, einmal absieht. Bis vor kurzem betrieben Mouse on Mars ein eigenes Studio in Düsseldorf, inzwischen sind sie umgezogen nach Berlin, auf das Gelände der Funkausstellung.
Und doch findet das größte Mouse-on-Mars-Projekt im Jahr 2011 am Rhein statt. Mitte September spielen Toma und Werner das Eröffnungskonzert zum 25. Jubiläum der Kölner Philharmonie, gemeinsam mit dem Orchester musikFabrik. Es ist ein Wagnis für alle Beteiligten. Für die Philharmonie, weil nicht sicher ist, wie das Stammpublikum auf das Experiment reagiert. Und für Mouse on Mars, weil sie noch nie mit einem Orchester gearbeitet haben. Schon gar nicht mit einem wie der musikFabrik.
Das Ensemble existiert seit 1990. Es ist basisdemokratisch organisiert und arbeitet auf Projektbasis mit wechselnden Dirigenten. Einen Namen hat es sich vor allem im Bereich der Neuen Musik gemacht, mit Stücken von Kagel, Saunders und Stockhausen – hartem Stoff, wenn man so will. Das Hauptquartier der musikFabrik liegt im Kölner Mediapark. Oder besser, unter ihm. Der Weg zum Proberaum führt durch ein verschlungenes Netz von Treppen und Gängen, als würde hier ein Pharaonengrab geschützt. Am Ende wartet ein turnhallengroßer Proberaum mit isolierten Wänden und Decken. Eine Tür weiter liegt das Instrumentendepot – eine Wunderkammer der Musik, die man mit demselben Staunen betritt wie die »Goonies« ihre Piratenhöhle. Nur, dass hier statt Gold Hunderte von Blech-, Schlag-, Blas- und anderen Instrumenten aufgereiht sind.
Dabei wird hier noch mit ganz anderen Klangkörpern gearbeitet. Unter anderem im Proberaum gesichtet: Waschbretter aus Messing, die wie Glockenspiele aufgehängt sind, Südseemuscheln als Blasinstrumente und ein ausgewachsener Baumstamm mit Kerben als Percussion-Element. Vieles liegt verstreut herum wie in einem Kinderzimmer.
Die einzigen ohne viel Spielzeug sind Andi Toma und Jan Werner. Sie sitzen an einem Pult vor zwei handelsüblichen Laptops. Neben dem Tisch steht ein großer Alukoffer mit abgewetzten Aufklebern, die von Reisen um die ganze Welt erzählen. Auf den Rechnern haben Mouse on Mars ihre Kompositionen gespeichert – keine Stücke im endgültigen Sinne, eher Fragmente und Samples. Die Bildschirme sind in viele Fenster unterteilt, es gibt Kurvendiagramme, Equalizer, eine Menge virtueller Knöpfe. Von weitem würde das Musikprogramm auch als Flugsimulator durchgehen.
Toma bewegt die Maus und klickt auf eines der Buttons. Ein Ambient-Sound schwebt durch den Raum, die Mitglieder der musikFabrik greifen die Stimmung mit Klavier, Cello und Marimba auf. Es klingt noch nicht ganz rund. »Können wir das ein bisschen lyrischer spielen?«, fragt Werner. Toma drückt auf »repeat«, das Ensemble setzt neu an. Sample und Orchester harmonieren jetzt besser. »Geil, das ist gut«, findet auch Werner und lächelt. Dann steht er auf und geht mit einem digitalen Rekorder durch den Saal. Das Ergebnis bearbeitet er zuhause nach, beim nächsten Mal fließt es als 2.0-Version in die Proben ein. Ab und zu macht auch das Ensemble Vorschläge. Die Stimmung im Saal ist locker, der Dresscode salopp. Manche Orchestermitglieder tragen kurze Hose und T-Shirts, insgesamt erinnert die musikFabrik eher an eine Jazzband als an ein Klassik-Ensemble.
Das Stück, das sie mit Mouse on Mars proben, nennt sich »Paeanumnion«. Der Zungenbrecher ist ein Gag. Das Wort hat keine Bedeutung, geben Mouse on Mars zu. Wonach Paeanumnion am Ende klingen wird, ist an diesem Probentag nur zu erahnen. Manche Passagen klingen sperrig und bewusst unmelodiös, andere hören sich fast nach traditioneller Kammermusik an. Ein Gefühl von Improvisation wird wohl auch die Endfassung des Stücks behalten.
Und doch sind die Proben keine reinen Jam- Sessions. Die Musiker sitzen hinter dicken Notenblättern. Sie stammen vom Komponisten Stefan Streich, der die Soundideen und Samples von Mouse on Mars so transkribiert hat, dass sie vom Orchester nachgespielt werden können. »Ein armes Schwein«, sagt Werner mit echtem Mitgefühl, »das war eine Heidenarbeit.« Streich gehört zu den Menschen, ohne die das Orchesterprojekt von Mouse on Mars (die selber keine Noten lesen können) nicht hätte realisiert werden können. Eine andere Schlüsselfigur ist André de Ridder.
Als Grenzgänger zwischen Klassik, Neuer Musik und Pop ist de Ridder ein Idealkandidat für Paeanumnion. Zu seinen bekanntesten Arbeiten zählt die Grammy-nominierte Kooperation mit der Band Gorillaz und die letzte Platte der Avantgarde-Formation These New Puritans. Toma hat de Ridder 2009 kennen gelernt, bei einem gemeinsamen Auftritt im Londoner Barbican Center. Sie freundeten sich an, am 10. September wird de Ridder Paeanumnion in der Kölner Philharmonie dirigieren.
Bis dahin ist es noch eine Menge Arbeit – und wenig Zeit. Ganze zwei Proben stehen noch an bis zur Premiere. Dafür wirkt die heutige Session noch ziemlich unfertig. »Das macht mich schon ein bisschen nervös«, sagt Toma auf dem Weg zum Mittagessen. Mouse on Mars sind auf vier Kontinenten aufgetreten und bringen 18 Jahre Musikerfahrung mit. Und doch ist Paeanumnion auch für sie kein Projekt wie jedes andere.
Das hat auch mit Geld zu tun. »Andi und ich sind einfach nicht gewohnt, in Segmenten zu arbeiten«, sagt Werner in einer winzigen Suppenbude zwei Querstraßen vom Mediapark entfernt. Er meint die fest kalkulierten Probenzeiten mit dem Orchester, für die er und Toma nach Köln reisen. »Wenn wir alleine arbeiten, vergessen wir oft die Zeit. Das geht hier nicht.« Andererseits wissen Mouse on Mars natürlich, dass der Kompositionsauftrag zu Paeanumnion und die dazu gehörigen Geldspritzen von KölnMusik und der Kunststiftung NRW einen ganz anderen Konzertrahmen ermöglichen. Allein die Sisyphosarbeit der Notentranskription wäre ohne die Philharmonie im Rücken wohl kaum zu bezahlen gewesen.
Mit einem Orchester zu arbeiten, sei schon immer ein großer Wunsch gewesen, sagen Mouse on Mars. Dass das Ganze auch kritisch aufgenommen werden könnte, ist ihnen klar: »Im Club sind die Leute für sich selbst und für den Künstler da. Der Konzertsaal aber gehört der großen Musik, und du musst deinem Publikum erklären, warum du da auch noch mitmischen willst.« Während Werner vom Unterschied zwischen Club- und Orchestermusik erzählt, schaut sein Bandkollege auf die Uhr. »Jan, wir müssen zurück.« Die 25 Minuten Mittagspause sind schon eine Weile vorbei. Mouse on Mars haben die Zeit vergessen.
Mouse on Mars, André de Ridder, Ensemble musikFabrik, »Paeanumnion«, Philharmonie Köln, 10.9.2011, www.koelner-philharmonie.de