TEXT UND INTERVIEW: CHRISTOPH VRATZ
Nischni Nowgorod hieß bis 1990 Gorki. Es ist die fünftgrößte Stadt Russlands, aus der Friedensnobelpreisträger Andrei Sacharow stammt. Es gibt eine Oper und ein Ballett. Vielleicht wird eines Tages ein namhafter Pianist als Sohn der Stadt geführt werden, auch wenn der bereits mit acht Jahren seine Heimat verließ und mit den Eltern nach Hannover übersiedelte. Dort studierte er erst in einer Abteilung für hochbegabte Kinder, später bei Karl-Heinz Kämmerling, der schon Lars Vogt und andere namhafte Pianisten ausgebildet hat.
Igor Levit machte im Sommer 2010 – 23 Jahre jung – sein Konzertexamen mit einem bis dahin an der Hochschule singulären Resultat. Aufs Programm hatte er ein Werk gesetzt, das viele Kollegen erst in fortgeschrittenem Alter zu spielen wagen: Beethovens monströse Diabelli-Variationen.
K.WEST: Warum ausgerechnet dieser Beethoven?
LEVIT: Sechs oder sieben Jahre zuvor hatte ich die Diabelli-Variationen kennengelernt. Es waren Kopien von Noten, kein zusammenhängender Band. Ganz viele Notenseiten, alle durcheinander verstreut. Ich wusste nicht mal die richtige Reihenfolge der Variationen. Trotzdem machten meine Augen Freudentänze. Ich saß in der Bibliothek, umgeben von 33 Veränderungen über einen Walzer! Was da auf mich eingewirkt hat, war unfassbar!
K.WEST: Welchen Rang haben die Variationen für Sie?
LEVIT: Es ist wie ein riesiges Kompendium. Was kommt in ihnen nicht alles vor? Von gellend blankem Hohn bis zu völliger transzendenter Versunkenheit. Da gibt es Satzbezeichnungen wie »grave e maestoso«. Als wäre es kalt und warm zugleich. Das gibt es nur bei Beethoven.
K.WEST: Wie erlernen Sie solch ein kosmisches Werk?
LEVIT: Nicht ad hoc. Wie ich es oft mache, habe ich auch die Diabelli-Variationen für längere Zeit liegen gelassen. Was soll ich mit dem Werk anfangen, wenn ich 15 Jahre alt bin? Einige Jahre nach der ersten Begegnung bekam ich die Variationen in Gänze in die Hand. Es wächst in einem Prozess.
Immer wieder wird Levit darauf angesprochen, dass er noch keine CD aufgenommen hat, als sei dies der einzige Weg, um eine künstlerische Karriere glaubhaft zu machen. Doch er lässt sich Zeit, ganz bewusst. Er möchte sich nicht diktieren lassen, was und wann er etwas zu tun habe. Die Debüt-CD plant er erst, wenn er seiner Sache sicher und der innere Zeitpunkt der richtige sei. Im Repertoire hat Levit auch Franz Liszts »Zwölf transzendentale Etüden«, ein nicht nur technisch verteufelt schweres Werk. Ein Prüfstein, ähnlich wie die Diabelli-Variationen.
K.WEST: Sind Sie der Mann fürs Unmögliche?
LEVIT: Das wirkt nur so. Es sind Werke, die mich im jeweiligen Moment interessieren und die ich sehr gern spielen will. Mehr nicht und weniger auch nicht.
K.WEST: Aber Sie könnten abwarten…
LEVIT: Das passiert auch. Damit gehe ich nicht nach außen. Aber wenn mein innerer Drang meint, »Das passt«, gibt’s kein Halten.
K.WEST: Waren die Liszt-Etüden schon immer ein Favorit?
LEVIT: Im Gegenteil. Liszts Musik war mir lange geradezu verhasst. Aber vor einigen Jahren hat es mich – auch durch Hören der »Faust-Sinfonie« – auf einmal gepackt. Wie ein Orkansturm kam es über mich.
K.WEST: Hätten Sie sich nicht mit einzelnen Stücken aus der Sammlung begnügen können?
LEVIT: Geht nicht. Auch wenn viele Kollegen es so machen – ich kann Zyklen nicht einfach aufbrechen. Ein Sänger würde auch nicht einzelne Lieder der »Winterreise« aufführen. Bei Liszt gibt es einzelne Etüden, die ich als nicht so herausragend einstufen würde, doch eingebunden in den Zwölfer-Zyklus ist es etwas Besonderes.
K.WEST: Sie wissen, worauf Sie sich einlassen. 60 bis 70 Minuten ohne Unterbrechung – ist das nicht auch physisch herausfordernd?
LEVIT: Vor allem ist es eine psychische Belastung. Doch mir kommt die Zeit am Klavier dann sehr schnell vor.
K.WEST: Wie halten Sie Ihre Konzentration?
LEVIT: Keine Ahnung. Ich weiß es wirklich nicht.
Erinnerungen an die Anfänge am Klavier sind für Igor Levit allenfalls noch Schemen. Seine Schwester hat Klavier gespielt, die Mutter unterrichtet. Ein musikalisches Haus. Doch weiß er, dass seine Eltern ihn nie gedrängt haben. Es war die eigene Lust, die ihn anspornte, Neues am Instrument auszuprobieren. Daraus einen Beruf zu machen, war nicht primär das Ziel.
K.WEST: Wenn man Sie beobachtet und um Ihre Vorliebe für die modernen Medien weiß…
LEVIT: Ich bin tatsächlich kommunikationssüchtig.
K.WEST: … könnte man glauben, Sie würden am liebsten alles gleichzeitig machen.
LEVIT: Ich würde mich selbst, je nach Tagesform, als eine Art Kaleidoskop betrachten. Ich beobachte manchmal an mir, dass ich von einem Bild im Kopf und von einem Eindruck zum nächsten springe und wieder weiter zum nächsten. Es ist sehr schwierig für mich, mein Chaos in eine Ordnung zu bringen.
K.WEST: Was ist Ihr Impuls als Musiker? Was möchten Sie erreichen?
LEVIT: Das, wofür die Musik da ist: Ich möchte Menschen unterhalten und – mehr als das nur oberflächlich Gemeinte – tiefe Emotionen wecken. Es gibt ja den Grundsatzstreit, ob man während der einzelnen Sätze klatschen dürfe oder nicht. Ich bin der Überzeugung, dass ein Bedürfnis, durch Berührung verursacht, sich spontan ausdrücken darf und nicht verstecken muss. Wenn etwas raus muss: Ja, dann lass es raus! Dafür bin ich da.
Igor Levit spielt am 11. Mai 2012 in der Folkwang-Universität, Essen, Werke von Debussy und Liszt.