Manchmal findet eine Zeit ihr Gesicht: Idealtypisch war die Knef für den deutschen Nachkrieg, Juliette Gréco für das Paris der Existentialisten, Twiggy für die Roaring Sixties, Diana Ross für die Disco-Generation. Und die 80er, die dann im Fegefeuer der Eitelkeiten verbrannten? Vielleicht stellt man sich das London jener Dekade in ihrer sehr speziellen und doch wieder auch gültigen Ausprägung am ehesten so vor, als hätte Stanley Kubrick ein Drehbuch von Derek Jarman verfilmt. Ein Uhrwerk Orange in beschleunigtem Takt. Ein Leben auf eigene Gefahr, ein Tanz auf dem Nadelkopf, ein Requiem in Punk, eine in heftigen Kurven verlaufende Schönheitslinie. Eine Party, wie von dem Romancier Alan Hollinghurst erzählt, mit David Bowie, Boy George, David Hockney als Statisten – und mit Leigh Bowery. Er wäre dieses Zeitgesicht. Und es verwundert, dass er nicht ebenso vom profanen Orden »Sisters of Perpetual Indulgence« heilig gesprochen wurde, wie Jarman nach seinem Tod im selben Jahr 1994. Leigh Bowery starb an Silvester – mit ihm endete mehr als nur ein Jahreszyklus. Auch er, ein »Last of England«, krepiert an jener Krankheit mit den vier Buchstaben, die Anfang der 80er den Hedonismus und das Gefühl sexueller Omnipotenz krass beendete.
Leigh Bowery kam aus dem Sonnenschein. »Sunshine« heißt die australische Provinz, die er 19-jährig, ein hübscher blonder College- Boy, verließ, um nach England zu gehen: »eventually to become famous«. Bestens vorbereitet und sozialisiert durch Musik-Videos, Fernsehshows und Bands wie Tsk Tsk Tsk aus Melbourne. London, in dem er erst mal bei Burger King jobbte, bewegte sich anders, aber swingte nicht weniger als 20 Jahre zuvor.
Margaret Thatcher regiert das Land eisern und treibt Künstler in den Protest: der je ästhetischer desto wirkungsvoller ist. Da sah sich diese Generation auch in der Nachkommenschaft von Oscar Wilde und dessen Ahnherren John Ruskin und Walter Pater. Teilte mit ihnen die Abneigung gegen die Langeweile und eine kleinbürgerliche Moral der Normalität. Der Dandy und der Rebell sprossen aus einer Wurzel. Das war schon beim Urvater des Dandyismus so, dem legendären Beau Brummel im 18. Jahrhundert, der seine »Tollwut der Eleganz« (Barbey D’Aurevilly) auch als intellektuelle Selbsterfindung verstand. Was Wilde über Frauen sagte, nämlich, dass es letzten Endes nur zwei Sorten gäbe, »die ungeschminkten und die geschminkten«, scheint Bowery für sich auf die Männer umgemünzt zu haben. Er gehörte zu den geschminkten. Ein von sublimer Décadence parfümierter Seufzer wie »Es fällt mir von Tag zu Tag schwerer, auf dem hohen Niveau meines blauen Porzellans zu leben«, dürfte Bowery als Herausforderung von Wilde übernommen, und dem Anspruch gerecht zu werden, ebenso als Anstrengung begriffen haben.
Das Faible, sein eigenes Kunstwerk zu sein, hat Bowery, wenn man so will, noch konsequenter erfüllt als der Erfinder des »Dorian Gray«. Er brauchte dazu nicht Literatur, keine Komödien und maliziösen Dialoge, sondern allein seinen Körper. Also die pure Oberfläche. Bowery war Kostüm- und Textildesigner, Performancekünstler, Maskottchen und Movens der Clubszene. Der Dress-Code und das Cross-Dressing dieses Grenzgängers des Erotischen und Virtuosen des Identitäts- Wechsels, darin »Ziggy Stardust« David Bowie und vielen anderen aus der Trivialkultur der Postmoderne ähnlich, elektrisierte die Avantgarde, die sich auf dem Catwalk der Kings Road traf oder nachts im »Heaven « in Charing Cross narzisstisch in den Morgen tanzte. Steve Strange, Boy George, Marilyn und Philip Sallon hießen einige der damals prägenden Figuren. Bald schon wurde Bowery mit seinem barocken Underground-Look abgebildet von Trend-Magazinen wie Face und i-d, tauchte in Videos auf, gründete seinen eigenen Club »Taboo« und seine eigene Band »Minty«. Er tourte und entertainte durch die halbe Welt von Tokio bis New York, von Amsterdam bis Wien. Ein ästhetisches, soziales und biosoziales Phänomen. Körper und Geschlecht wurden bei ihm zur Manipulations-Masse. Im wörtlichen Sinn, denn sein Lebendgewicht war beträchtlich, geradezu anstößig.
Da passt es, dass Bowery etwa in einem Kurzfilm die letzten 15 Minuten von Elvis Presley im Jahre 1977 karikierte, darin ein dicker Mann, auf der Toilette sitzend und Unmengen von Tabletten in sich hineinschaufelnd, einfach vornüber kippt. Helden sterben anders. Bowery arbeitete mit an der Erfindung eines Dritten Geschlechts, ein Semantiker des Körpers auf der Suche nach einer Alternative zum binären Code. Insofern geht er auch über das hinaus, was Susan Sontag zwei Jahrzehnte zuvor epochemachend in ihrem Essay als »Camp« bezeichnet hatte: »eine Betrachtung der Welt unter dem Gesichtspunkt des Stils«. Der Charakter der Verwandlung reichte bei Bowery – dies eine Spätform des Exzentrischen – bis zur Selbstzerstörung, auch wenn eine Idee davon bereits beim Außenseiter Oscar Wilde, dem »Monstrum als Ernstfall der Humanität« (Hans Mayer), angelegt war.
Eine Provokation stellt Bowery auch noch in einem weiter reichenden Sinn dar: Denn unser aller gehuldigten Wunschidee absoluter Individualisierung und Vergottung des Ichs bei gleichzeitig völliger (modischer) Konformität – also letztlich Unauffälligkeit – erwuchs in seiner Person ein grandios hypertropher Widerpart.
Wer in der Londoner Szene wen imitierte, persiflierte oder idolisierte lässt sich kaum sagen. Bowery hatte seinen Hofstaat, zu dem Figuren wie Trojan und Nicola Bateman gehörten sowie eine Eskorte von Fotografen, die seine stilisierten Auftritte und im Studio kalkulierten Arrangements festhielten. Der durch seine Porträts für Vanity Fair und den New Yorker berühmte Fotograf Ferguson Greer wurde auf Bowery aufmerksam, als der in der Galerie Anthony d’Offay als tableau vivant hinter der Fensterscheibe saß und gewissermaßen eine artistische Peepshow absolvierte. Die Sessions, die zwischen 1988 und dem Todesjahr von Bowery mit Greer entstanden, gehören zu den aufwändigsten und exquisitesten: 200 Posen und Rollen – surreale Phantasien und skulpturale Kreationen.
Eine vitale gestische Offensive. Tätowiert, gepierct und schwarz lackiert, als Vamp, Vampir und Diva, als Glatze, als Fratze. Als Blume des Bösen. Masken, Masken – ob als »Star Trek«-Drag Queen oder grotesk verformt mit massigem Babyface. Bowery hüllte sich in Nylon und Schaumstoff, drapierte schreiende Farben um den fetten Leib, verschwand in Rüschen, ließ seine Haut in Regenbogenfarben schillern, kleidete sich in ein malerisch schwarz-weiß geflecktes Leopardenfell, schuf kokette Sprachspiele wie »Annie Versary«, um mit Rosen und Champagner unterm Arm Geburtstagskind und -geschenk in einem zu sein. Sein Ich ist immer ein Anderer. Zugleich Original und Fälschung, Selbstbehauptung und Zitat bzw. Selbstbehauptung als Zitat. Vom Voodoo-Zauber bis zu Divine, von Madame Pompadour bis zu Claude Cahun und Catwoman war da alles drin – bis zu den Provokationen eines Damien Hirst.
Und dann gab es da noch die kreative Beziehung zu dem Maler Lucian Freud, der mit Bowery seine »Nudes« schuf: monströse schimmel- farbene Akte, zugleich grob und fein, abstoßend und anrührend, antikisch pompös wie fürs Forum Romanum und lasziv wie die Porträts hingelagerter Odalisken.
Das Düsseldorfer NRW Forum bindet die Foto-Folge von Leigh Bowery / Ferguson Greer in einen Kontext des Extremen, gefolgt im Februar von der Punk-Prinzessin Vivienne Westwood, die sich (gleich Gaultier) von Bowery ebenso inspiriert fühlte wie von der dreckigen street scene und anarchischen Antikultur und die dies – ob in löche-rigen T-Shirts mit obszönen Sprüchen, sadomasochistischen Gebrauchsgegenständen wie Ketten, Knochen, Latex und Leder etc. – zur Couture aufmotzte, um es später mit Rokoko und Diorissima zu kreuzen. Das »Exzentrische« dient dem Museum am Ehrenhof als Klammer einer Programmdramaturgie aus Mode, Musik und Kunst, aus Selbstinszenierung und sich zu Kult steigernder Rezeption. Und aus Wesentlicherem, wenn etwa Ulf Poschardt den Exzentriker als »Engel des nahen Untergangs« definiert, mithin als Verfallssymptom. Das erinnert stark an Tony Kushners Theaterstück »Angels in America «, in dem – parallel zum England der hier beschriebenen Epoche – die repressive Politik der Reagan-Regierung und das Menetekel des HIV-Virus die Betroffenen zu einer phantastisch-transzendenten Kitsch-Utopie herausfordern. Leigh Bowery hat ihr in seinen stolzen glamourösen Ego-Installationen Ausdruck verliehen. Eine Miss Liberty höherer Ordnung. //
13. Januar bis 12. März 2006; Tel: 0211/8926690; www.nrw-forum.de