TEXT: ULRICH DEUTER
Zeichnen heißt weglassen. Dennoch ist nicht die Zeichnung die beste, die gar nichts mehr zeigt. Der Künstler Hubert Amrhein füllt Blatt um Blatt mit den Umrissen von Gillians Körper und Gesicht, er drängt die zuletzt Entkleidete in immer neue Posen. Doch Maler wie Modell bleiben mit den Ergebnissen unzufrieden: Er hatte gehofft, sie werde etwas von sich offenbaren; sie, er könne etwas in ihr entdecken.
Kennengelernt hatten sich Gillian und Hubert, beide 39, bei einer Fernsehsendung, in der die Kulturmoderatorin den Künstler präsentierte: jemand, der auf coole Weise angesagt-anstößig war, weil er Frauen ansprach, nackt bei banalen Tätigkeiten fotografierte und Monate später malte, »wenn er ihre Namen längst vergessen« hatte. Das hatte Gillian abgestoßen und angezogen, sie hatte Kontakt zu ihm gesucht. Das war die Vorgeschichte.
Jetzt liegt Gillian, und so beginnt Peter Stamms neuer Roman, nach einem Verkehrsunfall mit zerstörtem Gesicht im Hospital. OP für OP wird ihre Nase wiederhergestellt werden, aber ihr Mann Matthias ist tot, und sie wird nie mehr vor die Kamera können. »Sie hatte sich das eine oder andere Mal über ihre Bekanntheit beklagt, aber in Wirklichkeit hatte sie es geliebt, erkannt zu werden.« Das Thema des Gesehenwerdenwollens und der Angst davor, das Stamms Landsmann Max Frisch in große Romane gebracht hat, ist, wie so oft bei dem 1963 geborenen Schweizer Autor, der eine Strang seines Buches; der andere, wie immer bei ihm, die Zerbrechlichkeit eines normalen Lebens. Normal ist auch das der Kulturschickeria (und später das der esoterischen Lebenshilfeszene): hohl, inszeniert, seins wie ihrs. Hubert büßt seine Schöpferkraft ein, die er vielleicht nie hatte, erleidet einen Zusammenbruch. Gillian verliert nach ihrem Schicksalsschlag jede Lust am Medialen und wird in den Bergen durch die Arbeit mit Menschen eigentlich. Beide gewinnen nach ihrer Wiederbegegnung Jahre später im Engadin ein paar Wochen der Paarschaft. Am Ende ist Gillian allein. Das nun wieder hat viel vom Wahlschweizer Hesse.
Zeichnen heißt weglassen – sparsam Striche zu setzen, nicht zu schraffieren, ist Peter Stamms Poetologie. Seine Figuren besitzen, selbst mit Nase, kaum je ein Gesicht; ihre Schicksale fließen mit leiser Gleichgültigkeit nach unten, wo es traurig ist. Der Schritt vom Einfachen zum zu Einfachen aber ist klein; in »Nacht ist der Tag« wird er manchmal überschritten.
Peter Stamm: »Nacht ist der Tag«; S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2013, 252 S., 19,99 Euro
Lesungen: 26. November 2013, Arp Museum Rolandseck, Remagen + 27. November 2013, Literaturhaus Köln + 28. November 2013, Literaturhandlung im Heine Haus