INTERVIEW: HANNES KRAUSS
Friedrich Christian Delius, geboren 1943 in Rom, wurde bekannt durch seine Romantrilogie über den »Deutschen Herbst« aber auch durch die Prozesse, die der Siemens-Konzern und der Kaufhauskönig Helmut Horten gegen Texte von ihm führten. Von 1970 bis 1973 war Delius Lektor bei Wagenbach, danach bis 1978 in derselben Funktion beim Rotbuch-Verlag. Sein jüngstes Buch heißt »Als die Bücher noch geholfen haben« und offeriert faszinierende Einblicke in drei besonders ereignisreiche Jahrzehnte der deutschen Nachkriegs-Kulturgeschichte. Nach einer Lesung im Hamburger Literaturhaus sprach K.WEST mit Delius über sein Verhältnis zur Literatur.
K.WEST: Ihr neues Buch handelt vom Leben mit Büchern und durch Bücher. Gleich zu Beginn ›outen‹ Sie sich als »Literaturidealist«.
DELIUS: Dieser Begriff ist mir beim Schreiben eingefallen – als ich überlegt habe, wie dieser junge, schüchterne, stotternde Mensch überhaupt zur Literatur hin gewandert ist. Dieses Sich-Selbst-Retten durch die Literatur, durch das Schreiben hat mir gezeigt, dass ich von der Literatur immer viel erwartet habe und viel erwarten möchte. Ich bin nach wie vor dieser altmodischen Auffassung, dass Leute, die Literatur lesen, von dem Erfahrungsschatz der gesamten Menschheit auf angenehmste Weise profitieren können und so nicht nur ihren Horizont erweitern, sondern auch Privilegien erwerben. Das Privileg des Differenzierens beispielsweise, des Vorahnens von Konflikten und Emotionen oder der größeren sprachlichen Fähigkeiten; man lernt dies automatisch mit, wenn man Literatur liest. In ihr steckt ein ungeheurer Schatz, und wer versteht, ihn zu heben, kommt wahrscheinlich besser durch die Welt – nicht unbedingt ökonomisch, aber mit Empathie und Weltwissen. Mein Ziel war, dass mehr Leute Literatur lesen sollten. Dafür wollte ich arbeiten; insofern bin ich Literaturidealist.
K.WEST: Kann man mit Begriffen wie »Tugend des Zersetzens« oder »Widerstand gegen Fundamentalismus« (aus der Dankrede zum Büchnerpreis) Ihre Schreibintentionen charakterisieren?
DELIUS: Na ja, das sind Überschriften oder Stichworte. »Tugend des Zersetzens«: Das war ein Vortrag an einer evangelischen Akademie, da war ich 23 Jahre alt, und als ich das im Zuge der Arbeit an dem neuen Buch nochmal gelesen habe, war ich überrascht, mit welcher Entschiedenheit und Frische dieser junge Kerl da sagt, was er vorhat. Das war in einer Zeit, die in diesem Buch auch beschrieben wird, als die Autoren sich nicht einigen konnten, ob sie eher zur (sozialdemokratischen) Grass-Fraktion oder zur (eher sozialistischen) Peter-Weiss/Erich-Fried-Fraktion gehören wollten. Da bin ich einfach einen Schritt zurück gegangen und habe gesagt, es interessiert mich jetzt nicht, welche Richtung ich oder meine Literatur haben soll, sondern ich beschränke mich erst mal darauf, Phrasen, Redewendungen auseinanderzunehmen, die üblichen sprachlichen Übereinkünfte durch Literatur zu hinterfragen (wie man heute sagt, das Wort gab’s damals noch nicht). Das war bescheidener, aber auch entschiedener. Es hat ja dann noch eine Weile gedauert, bis ich Autor wurde. Dieser Vortrag war in meiner Studentenzeit, als ich Lyriker war und diese beiden Dokumentartexte (»Wir Unternehmer« und »Unsere Siemens-Welt«; d. Red.) geschrieben habe; dann bin ich acht Jahre Lektor gewesen und danach erst, was man so freier Schriftsteller nennt. Etwas Programmatisches in dem Sinne habe ich nie entworfen.
K.WEST: Im Vorwort bezeichnen Sie das Buch als »Nahaufnahmen literarischer Lebenskapitel aus den Zeiten, als die Bücher noch geholfen haben«. Helfen Bücher heute weniger?
DELIUS: Natürlich helfen in diesem Sinne Bücher heute ganz genauso. Diese Hilfe wird vielleicht weniger angenommen. Aber dass Bücher, und eben nicht nur Sachbücher, sondern auch die Literatur – welches Landes, welcher Epoche auch immer – immer noch das handlichste und billigste und umfassendste und reichhaltigste und heiterste Mittel sind, sich Welterfahrung anzueignen, das ist ja auch wissenschaftlich unbestritten. Es kommt da und dort ein bisschen aus der Mode, aber es wird nicht verschwinden. Die Wünsche helfen heute ja auch noch.
K.WEST: Breiten Raum nehmen in Ihren Rückblicken die Erfahrungen als literarischer Lektor im Wagenbach- und danach im Kollektiv des Rotbuch-Verlags ein. In diesem Zusammenhang ist vom »Glück des Entdeckens« die Rede. Die aufgeführten Autoren und Titel zeigen, dass der Rotbuch Verlag in den 70er und 80er Jahren einer der wichtigsten deutschen Literaturverlage war: Zwei spätere Nobelpreisträger (Dario Fo, Herta Müller) und viele andere, mittlerweile längst renommierte Autoren wurden damals bei Rotbuch verlegt.
DELIUS: Trotz des unglücklichen Verlags-Namens stand für mich – in den fünf Jahren, die ich das Lektorat gemacht habe – die Frage der literarischen Qualität an oberster Stelle. Wir wollten nur das, was wirklich gut war, was uns literarisch wirklich überzeugte. Wir hatten mit »Lenz« von Peter Schneider gleich am Anfang einen Bestseller und so das Glück, dass die Leute gesehen haben, das funktioniert, was die da machen. Meine Gänge zu Heiner Müller führten später zu der Werkausgabe, es folgten dann Thomas Brasch und Aras Ören (der erste Autor aus der ersten Migrantengeneration, der im Hauptprogramm eines Verlags erschien). Wir waren aber auch neugierig auf junge Autoren. Ich habe die ersten Schritte gemacht, andere hat Gabriele Dietze entdeckt – von Libuše Moníková bis Emine Özdamar oder Birgit Vanderbeke. Ich will nicht die ganzen Namen aufzählen, aber Literatur war uns das wichtigste, und aus dem Buch »Als die Bücher noch geholfen haben« wird ja deutlich, warum ich versucht habe, bei literarischer Qualität keine Kompromisse zu machen.
K.WEST: Das klingt ein bisschen wie verlegerische Idylle.
DELIUS: Nee, wir haben uns selbst ausgebeutet, zu viel gearbeitet und miserabel bezahlt (man merkt das heute an unsern Renten). Wir hatten ja diese Ideologie, Bücher müssten so billig sein, wie’s nur irgend geht. Wenn wir die eine oder andere Mark mehr kalkuliert hätten, wär das auch nicht schlimm gewesen, und wir hätten nicht immer so am Abgrund gejapst. Aber das waren halt die Zeiten. Aber inhaltlich waren wir beneidenswert frei: links und trotzdem gegen Moskau, Mao, Meinhof. Und bei der Literatur zählte das Argument »Das verkauft sich nicht« überhaupt nicht, sondern: »Was Qualität hat, wird auch verkauft, früher oder später«.
K.WEST: Ein paar Sätze noch zu Ihren eigenen Büchern (die hier nur am Rande vorkommen). Eine ihrer Stärken ist, dass sie aus ganz unterschiedlichen Perspektiven immer wieder neue Blicke auf die Realität, auf die Gesellschaft werfen. In einer Art Rollenprosa konfrontieren Sie uns mit anderen Ansichten der Welt.
DELIUS: Das ist ja die Lust beim Schreiben, dass ich mich auf ganz verschiedene Felder begeben kann, die mich interessieren. Ich kann mich ein paar Jahre mit Computertechnologie und Computergeschichte beschäftigen und das dann soweit treiben, dass ich für einen Roman lang Konrad Zuse bin. Ich kann das auch mit einem sächsischen Kellner aus Rostock machen, mit einem brandenburgischen LPG-Bauern, mit einer Biologin in einem Flugzeug, das grade entführt wird und mit einer hochschwangeren 21-jährigen Frau, die etwas hilflos durch Rom tapert. Das mach ich gerne. Das ist das Tolle am Schreiben, dass es viele Berufe, viele Perspektiven, viele verschiedene Sichten auf die Welt ermöglicht – in bestimmten Momenten, nicht generell. Ich fokussiere das ja meistens auf ein paar Tage, oder ein paar Stunden oder ein paar Wochen, die ich dann beschreibe. Also keine Familien-, Generationen- oder Jahrhundert-Romane. Das interessiert mich nicht, mich interessieren Augenblicke.
K.WEST: Die Schilderung solcher Momente wirkt oft erhellender als ein Geschichtsbuch.
DELIUS: Das war nicht intendiert. Es sind immer die ungelösten Fragen gewesen, die mich dazu gebracht haben, über etwas zu schreiben, Neugier und die Freude am Formulieren, natürlich auch politische, historische Neugier.
Friedrich Christian Delius: »Als die Bücher noch geholfen haben. Biografische Skizzen«. Verlag Rowohlt Berlin, 2012, 304 Seiten, 18,95 Euro. Lesung 26. April 2012, Stadtbibliothek Köln