TEXT: ANDREAS WILINK
Schade, man müsste eigentlich den ganzen Edward Steichen sehen, angefangen bei dem malerischen Vertreter des Piktorialismus, der Symbolismus und impressionistische Techniken in seine Fotografie integrierte und Bilder machte wie »Storm in the Garden of the Gods«, der auch Böcklins Toteninsel hätte durchfegen können. Es gibt Gartenszenen wie von Monet, Äpfel und Birnen wie die von Cézanne, mürb-schwere van Gogh-Sonnenblumen und großartige Naturstimmungen, die denen seines Namensvetters Edvard Munch in nichts nachstehen.
Das Folkwang Museum, dass für seine Steichen-Ausstellung vor allem auf die 65 Arbeiten umfassende Schenkung durch Joanna Steichen von 1983 zurückgreift, die sich später auf 71 erhöhte und den Akzent auf die Mode- und Porträtfotografie legt, verzichtet auf die anderen Aspekte dieses Großmeisters der Fotografie. Vielfalt zeichnete ihn aus, er wollte alles ausprobieren, »Spezialistentum« war ihm verhasst. Nature Morte, Akt, Landschaften, Kriegsreportagen, Fotomontagen und experimentelle Farbfotografie: All das gehört zu Steichen (1879-1973), dem in Luxemburg geborenen Amerikaner, der zeitlebens zwischen New York und Paris pendelte. Und noch mehr. Als Fotograf l’Art pour l’Art- wie auch Auftrags-Künstler (u.a. für die Industrie), war er darüber hinaus Impresario, Sammler, Förderer der Avantgarde und legendär als Kurator der Foto-Abteilung des Museum of Modern Art und in jeder dieser Funktionen höchst einflussreich – wie vor ihm wohl nur sein Mentor Alfred Stieglitz. Mit seinem humanistisch motivierten Ausstellungs-projekt »The Family of Man« von 1955, aus dessen Repertoire von mehr als 500 Aufnahmen das Essener Haus auch Exemplare besitzt, hat Steichen gewissermaßen der UNO die visuelle Verfassung geliefert.
Steichen, dem kommerzielle Nutzbarmachung des Mediums Fotografie selbstverständlich war, kam 1923 zum Konzern Condé Nast Publications und wurde Cheffotograf der Vogue, die mit ihm zu einer Art Louvre der Mode werden sollte. Kenner seines riesigen Werks vertreten die Auffassung, der Fotograf Steichen sei nur zu verstehen aus seiner Passion für das Gärtnern, für Landschaftsarchitektur und Blumenzucht. Eine Blüte bedeutete ihm eine »persona« – wie ein Gesicht, eine Gestalt, ein menschlicher Charakter. Wer das weiß, wird seine Porträts und exquisiten Modebilder anders sehen. Und wer seine Calla Lilie oder Lotusblume betrachtet, bemerkt zudem, woher sich Robert Mapplethorpe Anregungen für seine erotischen Pflanzen-Pin-Ups holte.
Zwischen den beiden Weltkriegen entstanden Edwards Steichens berühmtesten Aufnahmen, die ein »Celebrity Design« for Living transportierten, sowie eine spektakuläre Prominentengalerie.
Die Arrangements sind bestimmt von Leichtigkeit, Klarheit, Schlichtheit und Eleganz, nehmen Elemente von Art Déco, Kubismus und Futurismus auf und spielen raffiniert mit dem Vokabular kantiger Formen, geometrischer Strukturen, skulpturaler Muster und Perspektiv-Verschiebungen, lassen glanzvolle Politur, effektvolle Kontraste und dramatische Spannung in Dialog treten.
Er verhüllt Greta Garbo in einem schwarzen Gewand, so dass wie in einer Rodin-Plastik nur Hand und Finger und das schöne Gesicht mit seitlich ins Imaginäre blickenden Augen unter den Wellen von Haar heraus gemeißelt schei-nen. Fred Astaire tanzt mit seinem übergroßen Schatten. Walt Disneys Haupt entsteigen zwei Mickey Mouse-Figuren. Luigi Pirandellos Geisterkopf blickt in den Illusions-Abgrund des Seins. Winston Churchill verkörpert markant den Staatslenker. In John Barrymores edlem Profil verschmelzen Schlaf, Traum und Tod. Gloria Swanson verewigt sich hinter einem transparenten schwarzen Schleier zur ewigen Sphinx. Martha Graham erwächst wie auf einem Sockel aus dem Stretchkleid zur Statue ihrer selbst.
Steichen, der seine weiblichen und männlichen Modelle – Politiker, Künstler, Sportler, Schauspieler und Mitglieder der Society – in Bezug zum Dekor, zum Raum und zu sparsam benutzten Requisiten setzt, erschafft eine komplexe Einheit und ideale Komposition. Wie später von den jüngeren Kollegen George Hoyningen-Huene und Horst P. Horst als ästhetisches Dogma übernommen, lässt Steichen in seiner Studio-Fotografie das Licht zum »Mittel der Transformation« werden. Der Vorgang der Belichtung erhält so noch eine zweite Bedeutung.
Folkwang Museum; 6. November 2010 bis 16. Januar 2011; der Katalog erscheint im Steidl Verlag, Göttingen; www.museum-folkwang.de