TEXT: STEFANIE STADEL
Das kleine Mädchen schaut finster drein. Ist es misstrauisch, unsicher? Hat es Angst? Vor wem? Warum klebt Blut an seiner Hand? Hat es am Ende selbst etwas Schlimmes angestellt? Ein rundherum ungutes Gefühl stellt sich ein mit Blick auf das Kind mit dem merkwürdig fahlen Teint. Man ahnt Böses, beginnt zu rätseln – wie so oft, wenn man sich einem von Marlene Dumas’ Menschenbildern gegenüber sieht. Diesmal mag der unverfängliche Titel das Unbehagen lindern: »The Painter« steht auf dem Schildchen neben dem überlebensgroßen Gemälde von 1994, »Der Maler«. Ach so! Die Kleine hat gemalt, deshalb sind ihre Händchen violett-schwarz und blutrot verschmiert. Sicher macht es sie wütend, dass man ungefragt die Kamera auf sie richtet, so nackt und so schmutzig wie sie ist.
Es war ein Schnappschuss der eigenen Tochter, den Marlene Dumas zum Anlass nahm für jene ganz persönliche Allegorie eines Malers. Helena hatte sich beim Baden selbst angemalt. Ein denkbar harmloser Hintergrund – bei genauerem Hinsehen ändert er aber kaum etwas an der Ambivalenz und Vieldeutigkeit dieser malerischen Umsetzung.
Gerade deshalb macht sich das Bild wohl so gut auf dem Katalog zu Marlene Dumas’ großer Retrospektive, die Amsterdams Stedelijk Museum der 61-Jährigen jetzt widmet – endlich, möchte man hinzufügen. Denn sie war überfällig. Seit mehr als 20 Jahren hatte Dumas keine Einzelausstellung in den Niederlanden, obwohl die gebürtige Südafrikanerin vor langer Zeit schon ihre Wahlheimat hier fand. Und seither eine ansehnliche Karriere hingelegt hat: Zwei Teilnahmen an der Documenta kann sie verbuchen, 1995 vertrat sie Holland auf der Biennale in Venedig. Und zur Zeit ist sie auf der Manifesta in Sankt Petersburg präsent mit einer kleinen Galerie homosexueller Berühmtheiten. Von Peter Tschaikowski bis zum Computer-Erfinder Alan Turing – unüberhörbar spricht aus diesen Porträts Dumas’ Kritik an der russischen Regierung und ihren homophoben Gesetzen.
Nun kommt sie also auch in ihrer Heimat groß heraus, ganz groß – mit der europaweit bisher umfassendsten Werkschau. Rund 200 Gemälde und Zeichnungen überblicken im Stedelijk Museum Dumas’ Schaffen seit den 70ern, als die Künstlerin nach Amsterdam kam und blieb – zunächst um ihr Studium fortzusetzen und Werke europäischer und amerikanischer Zeitgenossen im Original kennen zu lernen. Aus jener Zeit stammt eine ganze Reihe von Zeichnungen, die sich manchmal Menschen, aber damals auch noch allerhand anderen Sujets widmen. Topfpflanzen zum Beispiel: Die Bleistiftskizze einer stattlichen Sansevieria mit dem Titel »I Won’t Have a Potplant« ist sicher als Antwort auf die in den Niederlanden verbreitete Fensterbankbegrünung zu verstehen.
Es dauerte jedoch nicht lang, bis die junge Künstlerin ihr ureigenes Erfolgs-Thema gefunden hatte, die »Potplants« beiseite schob und sich in unterschiedlichen künstlerischen Techniken dem Menschen näherte – seinem Gesicht und seinem Körper, seinen Ängsten und Abgründen, seiner Verletzlichkeit. In Bildern, die mit ihrer Präsenz oft verstörend wirken.
Umso mehr könnte einen wundern, dass Dumas bei der Arbeit das Auge-in-Auge mit ihren Modellen meidet. Auch wenn es so scheinen mag – ihre Menschenbilder sind keine Porträts im herkömmlichen Sinne. Sie entstehen nie vor dem Modell im Atelier, sondern sind allesamt durch Fotos inspiriert. Sie brauche diese Distanz, so die Malerin. Dumas muss allein sein, wenn sie in fremden Gesichtern, in Körper-Posen oder -Konstellationen den Ausdruck von Stimmungen, Gefühlen, seelischen oder emotionalen Situationen verdichtet.
Das funktioniert mit dem Kinderbild aus dem Familienalbum ebenso gut wie mit dem Pressefoto einer toten Terroristin, der Dumas ins bleiche, blutbeschmutzte Mädchen-Gesicht schaut. Dabei ganz dicht herantritt – näher geht nicht. Das gilt auch für die hundert »Model«-Bilder, die auf ganz unterschiedliche Quellen zurückgehen. Fotos von Psychiatrie-Patientinnen etwa, die, als eine Art Typologie der weiblichen Geisteskrankheit, ein Fachbuch aus dem 19. Jahrhundert illustrieren. Oder androgyne »Models« – von der französischen Fotografin Bettina Rheims in Serie abgelichtet. Altmeisterliche Porträts wie Vermeers »Frau mit dem Perlenohrring« und Rembrandts »Batseba« kommen als Quellen hinzu und begegnen in Dumas’ Serie der Sexy-Weiblichkeit des 20. Jahrhunderts: von Brigitte Bardot bis Claudia Schiffer.
Wahrscheinlich ließen sie alle sich irgendwo ausfindig machen in jenen Blättern, die das Amsterdamer Stedelijk Museum in langen Reihen über und untereinander anordnet. Doch die Suche scheint müßig. Viel lieber vertieft man sich in das durchscheinende Grau, das verwischte Schwarz, schaut in traurig verschattete Augen, folgt einem glasklaren Blick. Erkennt Züge von Misstrauen, Skepsis, Trauer, Selbstvergessenheit. Bemerkt Spuren der Versehrtheit in ausgefransten Lippen, weggekratzten Augen, in dunklen Striemen, die das Gesicht vergittern. In Mündern oder Nasen, die – als seien sie ins Schwimmen geraten – ihren angestammten Platz verlassen haben. Ein Kosmos von Gesichtern, jedes einzelne charakteristisch – aber nicht abbildhaft. Eher gleicht Dumas’ malerische Sicht einem Blick unter die Haut. Oder durch sie hindurch, denn mitunter wird wässerig aufgetragene Farbe selbst wie eine Membran.
Man meint in diesen Bildern viel mehr zu erkennen, viel mehr zu erfahren. Egal ob ihre Menschen mit verwässerter Tinte und Kreide rasch aufs Papier gebracht sind, oder ob sie – in kräftigen Ölfarben angelegt – metergroße Leinwände füllen, wie Supermodel »Naomi«, deren Lider so bunt und dick geschminkt sind, dass sie viel zu schwer auf den halbgeschlossenen Augen lasten.
Die Amsterdamer Schau präsentiert das ganze Repertoire. Und ordnet das Material dabei nicht streng chronologisch, sondern nach Themen: Es gibt Lebende und Tote, Babys und Witwen, wie Pauline Lumumba, deren Foto Dumas in einer alten Zeitschrift fand. Umgeben von Menschen steht sie da mit entblößtem Oberkörper als Zeichen der Trauer über den Tod ihres Mannes. Patrice Lumumba, erster Ministerpräsident der Republik Kongo, war 1961 gefoltert und ermordet worden. Welche Rolle dabei die ehemalige Kolonialmacht Belgien gespielt hat, ist bis heute nicht klar.
Es gibt pornografische Szenen, für die Dumas in entsprechenden Magazinen schmökerte, und weinende Frauen, denen sich die Künstlerin unmittelbar nach dem Tod ihrer Mutter widmete – frei nach Filmstills setzte sie etwa die verheulten Ingrid Bergman und Romy Schneider in Szene. Hierher passt auch jenes total verweinte Mädchengesicht, in dem sich alles aufzulösen und wegzuschwimmen scheint, nur die »Waterproof Mascara« nicht.
Auch Magdalena ist ein Kapitel gewidmet. Dumas hatte die Serie überlebensgroßer Akte vor dunklem Grund 1995 für den holländischen Pavillon der Venedig-Biennale geschaffen und dabei nicht nur die biblische Büßerin vor Augen. In ihren Magdalenen schwingt ebenso das Gehabe zeitgenössischer Mode-Ikonen mit. »Es ist nicht die gefallene Frau oder die Verführerin, auf die ich aus bin. Es sind nicht die Babydolls oder Amazonen, die ich will«, so die Künstlerin. »Es ist eine Mischung aus allem.« Jede Eindeutigkeit liegt Dumas fern, und nicht zuletzt das ist es, was ihre Kunst so spannend macht.
Bis 4. Januar 2015. Stedelijk Museum, Amsterdam, Tel.: 0031 20 / 5732 911. www.stedelijk.nl