Interview: Andrej Klahn
Das Phänomen der Wirtschaftsethik, so hat Niklas Luhmann einmal festgestellt, gehöre wie die Staatsräson und die englische Küche zu der Sorte von Erscheinungen, die in Form eines Geheimnisses auftreten, weil geheim bleiben müsse, dass sie gar nicht existieren. Obwohl Ludger Heidbrink und Alfred Hirsch in dem von ihnen herausgegebenen Buch zum Verhältnis von Moral und Ökonomie, »Verantwortung als marktwirtschaftliches Prinzip«, auf den Bielefelder Soziologen verweisen, kommen sie zu einem ganz anderen Befund. Ethik, so lautet ihre Bestandsaufnahme, ist heute ein integraler Geschäftsfaktor. Auf der anderen Seite bestimmen Korruptionsskandale, Massenentlassungen und Missmanagement das Bild »der Wirtschaft« in der Öffentlichkeit. Anlässe, mit Ludger Heidbrink, dem Direktor des »Center for Responsibility Research« am Essener Kulturwissenschaftlichen Institut, über das prekäre Verhältnis von Geld und Moral zu sprechen, gibt es derzeit genug – sie heißen Nokia oder Zumwinkel. Wenn nichts so alt ist wie der Wirtschaftsskandal von gestern, drängt sich eine ganz altmodische Frage auf: Wo bleibt die Moral?
K.WEST: Die Wirtschaft erleidet seit einiger Zeit in Deutschland einen immensen Ansehensverlust. Diskussionen über habgierige Topmanager, Heuschreckenplagen und Geierfonds sind Symptome dieses Vertrauensschwundes. Sie hingegen verzeichnen eine wachsende Bedeutung ethischer Standards für die Positionierung von Unternehmen am Markt. Wie geht das zusammen?
HEIDBRINK: Darauf gibt es keine einfache Antwort. Wir haben in der Tat eine spannende Gegenläufigkeit zu beobachten. Auf der einen Seite ist es so, dass Unternehmen und ihre Manager bei der Bevölkerung mittlerweile am Ende der Vertrauensskala rangieren, noch hinter der Politik. Das könnte daran liegen, dass uns die Globalisierung in einen Superkapitalismus hineinsaugt, der bisher gekannte Maßstäbe außer Kraft setzt. Langsam erkennen wir, dass Rücksichtslosigkeit im Wirtschaftsbereich ein Motor ist, den man nicht ausschalten kann. Aus dieser Erfahrung resultiert dann der von Ihnen erwähnte Reputationsverlust. Dass deutsche Unternehmen jetzt auch anfangen, auf Moral zu setzen, liegt ebenfalls in der Globalisierungsbewegung begründet. In Ländern wie den USA und Großbritannien engagieren sich Unternehmen schon lange als »gute Bürger« für die Gesellschaft. Das gehört zur Tradition marktliberaler Gesellschaften.
K.WEST: Man könnte vermuten, dass Ethik-Codes, Nachhaltigkeitsinitiativen und Wohltätigkeit lediglich vom immer härteren Gebaren der Unternehmen in ihrem Kerngeschäft ablenken sollen?
HEIDBRINK: Wir neigen in Deutschland sehr schnell dazu, karitative Tätigkeiten als Feigenblatt für das ökonomische Handeln zu verdächtigen. Natürlich steht ein ökonomisches Interesse hinter diesem Engagement; es zahlt sich gewissermaßen aus, ein guter Unternehmensbürger zu sein. Aber dieses Engagement wurzelt auch in einem »Payback-Ethos«: Immer mehr Unternehmen sagen sich, wir haben von der Gesellschaft profitiert, also zahlen wir ihr auch etwas zurück.
K.WEST: Eigentlich liegt es nahe, dass der verschärfte Konkurrenzkampf global operierender und produzierender Unternehmen eher zu einem Abbau ethischer Standards führt.
HEIDBRINK: Es ist vollkommen illusorisch anzunehmen, dass ein Unternehmen freiwillig die Kosten auf sich nimmt, Produktionsverfahren und Güter mit ethischen Zertifikaten auszuzeichnen. Solche Zertifizierungen müssen immer einen Marktwert besitzen. Wenn dieser Marktwert auch schwer zu bilanzieren ist, ist doch unbestritten, dass er erheblich durch ethische Indikatoren mitbestimmt wird. Nach Schätzung des Word Economic Forums gehen mehr als 40 Prozent der Marktkapitalisierung eines Unternehmens auf dessen Reputation zurück.
K.WEST: Messen Ethik-Indizes nur die Verlautbarungen von Unternehmen oder werden auch deren Umsetzung und Einhaltung kontrolliert?
HEIDBRINK: Die Überwachung ethischer Initiativen ist schwierig. Von außen betrachtet sind sie häufig kaum bemerkbar. Ganz im Gegenteil: Man kann durchaus den Eindruck haben, dass raubtierkapitalistische Methoden um sich greifen. Das halte ich aber für eine einseitige Wahrnehmung. Wenn man den globalen Kontext berücksichtigt, lässt sich feststellen, dass der Wettbewerb härter und der Erfolgsdruck größer geworden ist. Man könnte deshalb sagen: Wenn es uns nicht gelingt, in die Unternehmen das trojanische Pferd der Ethik und Nachhaltigkeit einzuschleusen, wird sich diese Situation noch erheblich verschlimmern. Jetzt, wo deutsche Unternehmen dabei sind, sich zu globalisieren, haben wir die Chance, ihnen gewisse zivilisatorische Verhaltensregeln beizubringen. Das ist eine
Aufgabe von Politik, aber mehr noch die der Konsumenten.
K.WEST: Welche Rolle spielt dabei, dass der ordnungspolitische Spielraum von Nationalstaaten abnimmt?
HEIDBRINK: Als postnationale Akteure übernehmen die Unternehmen immer mehr Aufgaben des Staates, denken sie nur an die Bereiche Sicherheit und Bildung. Diese Tendenz ist natürlich hochgradig problembehaftet, weil Unternehmen keine demokratische Legitimation besitzen. Wenn Shell in Nigeria private Wachdienste aufbaut und dort versucht, ein eigenes privatrechtliches Regelwerk zu installieren, besteht die Gefahr, dass ein Unternehmensstaat im Nationalstaat entsteht. Man muss da sehr genau hinschauen, aber ohne solche Initiativen geht es nicht mehr. Aufgabe der Politik ist es, intelligente Governance-Strategien zu entwickeln, wie man Unternehmen einbindet und mit ihnen globale Probleme angeht. Wenn das gelingt, sehe ich diese Entwicklung durchaus positiv.
K.WEST: Mit Nokia hat ausgerechnet ein Unternehmen, das im Umgang mit seinen Mitarbeitern als vorbildhaft gilt oder sich zumindest nach außen hin so darstellt, die überraschende Schließung eines ganzen Werkes angekündigt. Wer einen solchen Imageverlust in Kauf nimmt, scheint den geldwerten Vorteil unternehmerischen Wohlverhaltens für die Zukunft nicht besonders hoch einzuschätzen.
HEIDBRINK: Ich glaube, dass man vor allem die Art, wie die Schließung vollzogen wurde, als Fehlverhalten betrachten sollte. Das Schweigen, das Nokia nach der Ankündigung an den Tag gelegt hat, ist ein Zeichen, dass das Management sehr schnell seine Fehlentscheidung eingesehen hat. Aber es steht außer Frage, dass Unternehmen in Einzelfällen gezwungen sind, rücksichtslose und resolute Maßnahmen zu ergreifen, um im globalen Konkurrenzkampf mithalten zu können.
K.WEST: Wobei das Werk ja offensichtlich profitabel war.
HEIDBRINK: Rentabel wirtschaften heißt im globalen Maßstab, dass man woanders immer noch ein bisschen rentabler wirtschaften kann. Wenn es in Rumänien möglich ist, noch mehr Profit herauszuholen, dann wird ein Unternehmen dort produzieren. Dennoch werden sich Unternehmen in Zukunft sehr genau überlegen, ob die Renditen, die sie durch Standortverlagerungen einfahren, den Reputations- und Markenverlust wieder ausgleichen. Wahrscheinlich wird das Nokia-Management im Rückblick erkennen müssen, dass es dem Unternehmen durch die Werksschließung einen erheblichen Imageschaden zugefügt hat. Wie beträchtlich dieser Schaden ist, wird sich zeigen, wenn Nokia mal wieder soziale Maßnahmen verkündet. Dann könnte man sich an Bochum erinnern und sagen: Euch glauben wir nicht mehr.
K.WEST: Die Landesregierung hat dem Handyhersteller über Jahre erhebliche finanzielle Zugeständnisse gemacht, damit die Arbeitsplätze in Bochum gehalten werden. Sind Subventionen ein probates Mittel, um Anreize für moralisches Handeln zu setzen?
HEIDBRINK: Subventionen sind an sich ein legitimes Mittel, Unternehmen für Regionen zu gewinnen, in denen sie sich sonst nicht niederlassen würden. Doch mit ihnen Gemeinwohl orientiertes Verhalten zu erkaufen, ist schwierig. Das müssen Unternehmen freiwillig machen. Die Politik erkennt vielfach nicht, dass sich bestimmte Bereiche der Wirtschaft – nehmen wir nur die Managergehälter – so nicht steuern lassen.
K.WEST: Horst Seehofer und Peter Struck haben öffentlich verkündet, keine Nokia-Handys mehr benutzen zu wollen bzw. zum Boykott aufgerufen. Überrascht Sie die moralische Empörung angesichts einer Unternehmensentscheidung, die ja durchaus im Einklang mit den Gesetzmäßigkeiten der Mobilfunkbranche steht?
HEIDBRINK: Solche Aktionen sind albern und peinlich; das ist politische Solidaritäts-Show. Statt ihre Handys wegzuwerfen, sollten die Politiker lieber ehrlich sein und erklären, dass sie nicht in der Lage sind, auf solche Prozesse effektiv Einfluss zu nehmen. Letztendlich artikuliert sich in diesen Aktionen das Eingeständnis eigener Ohnmacht. Lächerlich ist dieser symbolische Akt aber auch, weil viele von denen, die nun ihre Nokia-Handys wegwerfen, eine Mitschuld daran trifft, dass solche Unternehmen aus Deutschland weggehen. Denn letztendlich ist es doch das Kaufverhalten einer auf billige Produkte gerichteten Kundschaft, das dazu beiträgt, dass Unternehmen ihre Standorte in Niedriglohnländer verlagern.
K.WEST: In Bonn will sich die Telekom mit einem zweistelligen Millionenbetrag für ein Beethoven-Festspielhaus engagieren. Zugleich baut der Konzern massenweise Stellen ab. Einerseits zeigt sich das Unternehmen also als Wohltäter für das Gemeinwohl verantwortlich, andererseits schadet es ihm durch Massenentlassung. Markiert diese Kluft das Spannungsfeld, auf dem sich Wirtschaftsethik zukünftig auszubalancieren hat?
HEIDBRINK: Ich glaube, dass diese Kluft zwischen sozialem Engagement einerseits und zunehmender Rücksichtslosigkeit am Markt das entscheidende Thema der Zukunft sein wird. Das Agieren der Telekom wirkt natürlich ungeheuer zynisch. Böse und sehr verkürzt könnte man sagen: Die Telekom entlässt Mitarbeiter, um in Bonn eine Musikhalle hinzustellen. Aber diese Prozesse laufen auf zwei verschiedenen Ebenen ab, nur nehmen wir das nicht so wahr. Man muss einfach erkennen, dass Unternehmen in einer globalisierten Wirtschaft ihrer Konkurrenzfähigkeit wegen dazu gezwungen sind, Mitarbeiter zu entlassen. Wenn Aktionäre auf ihre Rendite und Kunden auf Billigprodukte verzichten würden, gäbe es Spielraum, über dieses Verhalten nachzudenken. Die Unternehmenswelt ist ja relativ primitiv: Es braucht nur ökonomische Anreize, um Unternehmensentscheidungen zu beeinflussen. Es ist aber illusorisch zu glauben, man könnte mal eben aus dem Weltkapitalismus aussteigen.
K.WEST: Der Nobelpreisträger Milton Friedman hat vor fast 40 Jahren geschrieben: »Die soziale Verantwortung der Unternehmen ist es, ihre Gewinne zu vergrößern.« Ist damit auch heute noch die Grenze jedweder wirtschaftsethischen Überlegung markiert?
HEIDBRINK: Friedman benennt damit den Boden, auf dem Wirtschaftsethik stehen und gedeihen muss. Aber man kann sich davon wegbewegen; heute scheint mir die ökonomische und ethische Seite der Unternehmensführung fast gleichwichtig zu sein.
K.WEST: Als Variable in einer Kosten-Nutzen-Kalkulation …
HEIDBRINK: … auf die wir als Mitglieder der Marktgesellschaft großen Einfluss haben. Wenn sich Wohlverhalten für Unternehmen auszahlt, werden sie sich in diese Richtung orientieren.
K.WEST: Ist innere Überzeugung des Managements Voraussetzung dafür, dass es seine Entscheidungen glaubwürdig verkaufen kann?
HEIDBRINK: In Kants Anthropologie gibt es eine Abhandlung über den erlaubten moralischen Schein. Man könne den Umgang mit anderen Menschen, so Kant, eine zeitlang durch den Anschein von Höflichkeit und Courtoisie angenehm und reibungslos gestalten. Nach einer gewissen Zeit übernimmt man dann aber diese künstlichen Tugenden. Der moralische Schein wird Realität, indem man sich an das eigene moralische Verhalten gewöhnt. Auch bei Unternehmen könnte auf diese Weise eine Art habitualisiertes Sollen entstehen.
K.WEST: Bekanntlich wirken sich das Bekenntnis zur gesellschaftlichen Verantwortung und entsprechende Initiativen positiv auf den Kurswert eines Unternehmens aus. Umgekehrt gilt aber auch: Die Börsennotierung entscheidet, wie viel Moral sich ein Unternehmen leistet?
HEIDBRINK: Wenn die Börse ein Unternehmen abstraft, das sich über die Maßen sozial engagiert und dabei seine Gewinnmarge aus den Augen verliert, wird es seine strategische Ausrichtung in diesem Punkt überdenken. Alle moralischen Aktivitäten ruhen – im Fall von Aktiengesellschaften – auf ihrem Börsenwert. Anders ist das bei kleinen und mittelständischen Unternehmen. Die können sich ein anderes Ethos leisten, weil sie ihre Renditen selbst definieren.
K.WEST: Könnte die Notwendigkeit der Gewinnmaximierung zum Gegenstand einer wirtschafts-ethischen Reflexion werden?
HEIDBRINK: Dann müssten wir eine Systemdiskussion führen, weil das Profitmaximierungsprinzip mit der Marktwirtschaft nun mal untrennbar verbunden ist. Die globale Bewegung ist aber eine andere: Die Weltwirtschaft steuert von allen Seiten her auf den Marktkapitalismus zu. Sich dagegenzustellen, scheint mir eine Verschwendung von Zeit und Energie zu sein. Es muss vielmehr um Nachjustierung und Verbesserung im Detail gehen. Es ist ja auch nicht so, dass die Weltgesellschaft gerade den Bach runtergeht. Natürlich gibt es große Probleme, nehmen wir nur die immer weiter auseinander klaffende Lohnschere. Doch durch den Kapitalismus haben wir auch ein Wohlstands- und Freiheitsniveau erreicht, das vor 20 Jahren noch nicht existierte. Weltweit gesehen ist die wirtschaftliche Entwicklung durchaus positiv. Dass wir dafür in Deutschland Abstriche machen müssen, ist gegenüber ärmeren Ländern nur gerecht.
Ludger Heidbrink und Alfred Hirsch (Hg.): »Verantwortung als marktwirtschaftliches Prinzip. Zum Verhältnis von Moral und Ökonomie«, Campus Verlag, 544 Seiten, 39,90 €.