// Am Ende des Jahres wird Alfred Brendel mit 77 Jahren seine öffentliche Pianistenkarriere beenden. Der Altmeister tritt nach sechs Jahrzehnten von der Bühne ab. Die jüngste Generation steht längst für die Nachfolge bereit. Ob aus Russland, China, Venezuela oder aus Deutschland kommend, längst wird das Klassik-Geschäft von kometenhaft aufsteigenden Global Playern dominiert.
Der Pool ist groß. Ran Jia, Lang Lang, Yundi Li, Gabriela Montero, Mona Asuka Ott, Martin Stadtfeld, Nikolai Tokarev, Mauricio Vallina, Yuja Wang – die Liste der Klaviervirtuosen, die zwischen 1970 und Mitte der 80er Jahre geboren, mit Wettbewerbserfolgen dekoriert und mit Plattenverträgen ausgestattet wurden, ist lang. Das Tor zur großen Karriere steht ihnen offen. Doch schon manches Sternchen ist am weiten Firmament fix verglüht.
Mit vier Vertretern, die in diesem Jahr vom Klavier-Festival Ruhr zu Konzerten eingeladen werden, hat Christoph Vratz – getrennt voneinander – gesprochen.
Nikolai Tokarev, geboren 1983 in Moskau, wohnhaft in England; Lang Lang, geboren 1982 in Shengyang, mit amerikanischem Wohnsitz; Martin Stadtfeld, geboren 1980 in Koblenz, zu Hause in einer kleinen Stadt am Rhein; Gabriela Montero, geboren 1970 in Caracas und lebend in New York. //
K.WEST: Fühlen Sie sich als Botschafter Ihrer Generation?
STADTFELD: Ich habe nicht die Mission, den Leuten die Ohren für etwas Bestimmtes zu öffnen. Ich bin kein Pädagoge und möchte nicht die Größe von Musik vermitteln. Mir ist nur wichtig, Musik zu spielen, wie ich sie empfinde.
LANG: Klassische Musik hat man in der Vergangenheit, vor allem in den letzten 20, 30 Jahren, als etwas angesehen, das nur für die Bessererzogenen oder für ältere Zuschauer geeignet ist. Das wurde schon fast zu einer eigenen Tradition stilisiert. Dabei handelt es sich jedoch um eine so großartige, verbindende Musik, dass sie jeder hören sollte. Allerdings reicht es nicht mehr, wenn wir Musiker nur unsere Konzerte geben. Es braucht eine intensivere Kommunikation, das heißt, wir müssen auch in die Schulen gehen und den direkten Kontakt mit Kindern aufbauen.
TOKAREV: Alle Musiker sind Botschafter. Sie bringen etwas Wichtiges zu den Menschen. Musik ist immer eine Art von Erziehung, sie hilft bei der Meinungsfindung. Daher sehe ich mich in erster Linie als ein Botschafter von Gefühlen. Ich versuche, Energien freizusetzen, wenn ich Menschen in musikalische Welten entführe.
MONTERO: Klassische Musik, so wie sie mehrheitlich präsentiert wird, ist oft sehr intellektuell. Daher glauben manche Leute, sie sei schwer zu verstehen. Gern wird dabei vergessen, dass die Emotionalität der Musik im Vordergrund stehen sollte.
LANG: Wir als Künstler müssen die Werke besser erklären, vor allem der jüngeren Generation. Bitte, nicht immer alles so schwer und feierlich! Wir sollten eine leicht fassliche Story erzählen.
Lang Langs Karriere führte über die klassische Virtuosenschiene. Mit Klavierkonzerten von Tschaikowsky und Rachmaninow, mit vollgriffigem Rhapsodentum à la Franz Liszt stürmte er die Podien. Über eine weite Strecke war ihm
allgemeine Bewunderung sicher. Doch als er sich Werken von Mozart oder Schumann zuwandte, hagelte es Kritik: zu manieriert, zu selbstverliebt, lautete der allgemeine Tenor. Ähnliche Erfahrungen musste auch Martin Stadtfeld machen, obwohl sein Einstieg ins internationale Geschäft völlig anders verlaufen war. Er begann, wie einst Glenn Gould, mit Bachs Goldberg-Variationen. Doch auch sein Weg brachte ihn zu Mozart und Schumann – prompt hieß es, Stadtfeld sei diesen Anforderungen nur bedingt gewachsen.
STADTFELD: Die Gefahr des Manierierten kommt immer mit der Lust am Spielen, nicht aus Lust an der Musik. Es ist wie ein Kick, den es einem gibt,
über die Tasten zu fliegen oder eben ein Staccato zu erzeugen. Die Gefahr des Übertreibens entsteht dann zwangsläufig; und die Gefahr, sich von der musikalischen Aussage, die man eigentlich erreichen möchte, wegzubewegen. Es ist verführerisch, sich von dieser Spielfreude treiben zu lassen. So kann man in die Manier rutschen.
LANG: Darüber denkst du aber einfach nicht nach. Und wenn du doch darüber nachdenkst, klingt die Musik erst recht künstlich. Wichtig ist, ein Werk auf sehr professionelle Weise zu lernen: Stil, Struktur, Harmonie. Gleichzeitig musst du deine eigenen Klangvorstellungen entwickeln. Wenn du es dann vor Publikum spielst, soll jeder das Gefühl haben, dieses Werk sei für dich selbst geschrieben.
STADTFELD: Man kann schon ein bisschen auf sich aufpassen. Natürlich will ich es auch genießen, wenn die Finger gut laufen. Doch Vorsicht! Man darf es nicht zu weit treiben. Grundsätzlich aber gilt: Wenn man die Musik als solche liebt und nicht die Selbstdarstellung, lässt sich alles Manierierte von vornherein ausschließen.
LANG: Nehmen wir ein Beispiel: Schumann ist für mich ein Komponist, der einem manchmal alle Freiheiten lässt. Bei ihm kannst du (fast) alles machen, was gefällt – so wie die zwei unterschiedlichen Seiten von Florestan und Eusebius im »Carnaval«. Das kann dann von Fall zu Fall unterschiedlich klingen, mit jeder Aufführung ein wenig anders.
TOKAREV: Deswegen ist für Solisten die Kammermusik eine hilfreiche Sache. Ich mache es nicht sehr oft, habe aber dort wichtige Erfahrungen gesammelt. Da bleibt kaum Raum für Affekte.
Nikolai Tokarev mit Studium in Moskau, Manchester und Düsseldorf ist der Jüngste im Bunde. Schon seine Eltern und Großeltern waren Berufsmusiker. Er weiß genau, wie das Geschäft funktioniert. Vielleicht wirkt er deshalb mit seinen knapp 25 Jahren mitunter wundersam routiniert. Auch Tokarev wurde, früh zum Wunderkind ernannt, vornehmlich auf die virtuosen Nummern festgelegt. Doch davon will er nichts wissen.
Anders dagegen Gabriela Montero, die mit ihrem Etikett ganz gut leben kann: Sie gilt als Meisterin der Improvisation. Zwar spielt Montero in ihren Konzerten auch handfestes Repertoire, doch wahrgenommen wird sie vor allem als Spontanspielerin, als eine Musikerin, die auf Zuruf ein Volkslied mit barocken Girlanden oder mit Mozartschen Harmonien zu überziehen weiß.
K.WEST: Was passiert in dem Augenblick, wenn sie mit Ihrer Improvisation beginnen? Zieht dann ein innerer Bilderstrom vorüber?
MONTERO: Nein, keine Bilder. Es ist wie eine leere Seite. Und je leerer sie ist, desto offener sind meine Gedanken. Dann kommt die Phantasie und erzeugt es aus sich selbst.
TOKAREV: Phantasie ist das Wichtigste. Struktur und Form sind nur Basis und spielen vor allem beim Üben eine Rolle. Aber wenn ich auf eine Bühne gehe, lebe ich vor allem von meiner Phantasie. Ich muss zugleich auf das, was im Raum vor sich geht – auf die Leute und den Klang des Instrumentes – eingehen. Das funktioniert nur, wenn ich mich frei fühle.
MONTERO: Phantasie ist Freiheit. Ist die Fähigkeit, verschiedene Charaktere zu erfinden: wenn sich in der Vorstellungskraft bizarre, dunkle oder helle, schöne Dinge zusammenbrauen, mal humoristisch, mal tragisch. Phantasie ist, diesen jeweiligen Charakteren ein eigenes Leben zu gestatten.
STADTFELD: Perfektion und Phantasie schließen sich nicht aus. Oder nur dann, wenn der Wille zur Perfektion dazu führt, dass man Angst davor bekommt, nicht perfekt zu sein. Das schlägt sich dann auch auf die Phantasie nieder. Phantasie kann sich nur entfalten, wenn man frei ist – von mir aus auch auf Kosten einzelner falscher Noten. Für mich ist es sehr wichtig, dass ich die Musik gleichzeitig steuern, aber auch genießen kann. Dann öffnen sich neue Räume, es entsteht etwas Schönes.
MONTERO: Ich bekomme vom Publikum ein Thema, das ich dann in mich aufsauge – und das ist das Einzige, woran ich denke. Das Thema beginnt in der Improvisation zu leben. Auch für mich passiert es erst in diesem Moment; deshalb ist es immer wieder eine Überraschung zu sehen, was sich daraus entwickelt. Es ist meine Phantasie, der ich vertraue, denn ich könnte nie im Voraus sagen, in welche Richtung sich die Musik entwickelt.
Allen vier Künstlern ist auf der Bühne eines gemeinsam: ihre Unbekümmertheit. Sie spüren nichts von der Last vergangener Pianisten-Generationen. Vergleiche mit prominenten Vorgängern nehmen sie locker hin.
LANG: Ich glaube, dass das eigene Spiel eine Persönlichkeit zum Ausdruck bringen muss. Sonst brauchte man nicht Klavier zu spielen; wir haben doch schon so viele gute Einspielungen. Warum sollte ich sonst noch einmal die Tschaikowsky- oder Beethoven-Konzerte aufnehmen? Das ma-che ich nur, um etwas Neues zu zeigen.
TOKAREV: Wer aus Russland kommt, wirst fast automatisch der sogenannten russischen Schule zugerechnet, obwohl fast alle Lehrer dort deutsche Wurzeln hatten. Sogleich giltst du als Nachfahre eines Richter oder Gilels, nur weil – vielleicht – in ihrem Spiel eine besondere rhythmische Präg-nanz hörbar ist. Was aber ist mit Glenn Gould? Auch er war ein Rhythmiker erster Güte, aber mit russischer Tradition hatte er wahrlich nichts zu tun.
STADTFELD: Menschen, an denen man sich orientiert, sind unerlässlich. Aber von Vorbildern in der Musik muss man sich irgendwann lösen. Natürlich hat es mich immer interessiert, wie dieses oder jenes die großen Pianisten gespielt haben. Auch ich hatte meine Horowitz-CDs und Gould und viele andere. Heute noch finde ich ihr Spiel faszinierend, doch meine Aufgabe ist es, etwas Eigenes zu entwickeln.
TOKAREV: Als Künstler möchte ich mich doch ständig weiter entwickeln. Ich möchte nicht auf derselben Stelle stehen bleiben. Das war bei allen großen Pianisten so. Daher finde ich Einordnungen und Vergleiche immer ein wenig fragwürdig.
LANG: Entwicklung heißt nicht in erster Linie: Verbesserung der technischen Fähigkeiten. Es ist vielmehr eine Frage, wie man besser mit dem Instrument umgeht und wie man lernt, Musik zu verstehen. Mein Ziel lautet: Wie kann ich mich immer wieder auf ein höheres Niveau bringen? Das funktioniert manchmal abseits des Klaviers, etwa durch Gespräche mit Kollegen und Freunden, oder aber durch völlig neue Erfahrungen und Gefühle. Je mehr du weißt – ich will nicht sagen, desto besser spielst du, aber desto größer ist dein Horizont. //
Konzerttermine: Tokarev: 15. Mai 2008, Essen, Philharmonie; Stadtfeld: 9. Juni 2008, Düsseldorf, Tonhalle; Montero: 17. Juni 2008, Essen, Philharmonie; Lang Lang: 10./11. Juli 2008, Essen, Philharmonie. Info / Ticket: 0180 500 1812; www.klavierfestival.de