TEXT: ANDREAS WILINK
Ein wichtiger Satz für ihn, sagt Hans Pleschinski, sei Gottfried Benns: »Alles bleibt offen«. Ins Offene schwinden am Ende von »Königsallee« Thomas Mann und Klaus Heuser. Den Weg ins Freie wählt der Autor selbst, indem er historisch Verbürgtes um eigene Zutaten anreichert, Wirklichkeit ins Poetische überführt sowie umgekehrt und ein Stück deutscher Kultur- und Mentalitätsgeschichte schreibt. Auch für sein Buch gilt die Prägeformel: »Es ist buchenswert«, mit der Thomas Manns Allotria treibender Goethe-Roman über »Lotte in Weimar« endet.
Schauplatz ist der Breidenbacher Hof in Düsseldorf, die Zeit 1954. Thomas Mann reist für eine Lesung in Begleitung von Frau Katia und Tochter Erika an. Parallel nimmt Klaus Heuser, der als Kaufmann in den 30er Jahren nach Indonesien auswanderte, mit seinem Lebensgefährten Anwar Quartier im Hotel an der Kö: der »Herzensschatz«, den TM 1927 auf Sylt kennengelernt hatte. Der junge Düsseldorfer, Sohn von Mira und Werner Heuser, dem Künstler und Akademie-Präsidenten, war um einiges jünger als die Mann-Kinder Klaus und Erika. Der Dichter des »Tod in Venedig« fand Gefallen an dem Jüngling und lud ihn nach München in seine Villa ein. So trat er ein ins Werk: verwandelt in den biblischen Götter-Liebling Joseph und anteilig in den Rheinländer Felix Krull. Die Episode wird TM 1942 im Tagebuch resümieren: »Es war da, auch ich hatte es, ich werde es mir sagen können, wenn ich sterbe.«
Pleschinski, in jungen Jahren »entzündet« von Manns Sprachkunst, um ihn dann lange beiseite zu legen, bevor er dessen Tagebücher zur Hand nahm, in denen er auf Eintragungen über Heuser stieß, fragte sich: »Wo ist der geblieben?« Recherchen führten ihn zur Nichte Heusers. Die »treffliche Oberkasselerin« gab ihm bislang unbekannte Dokumente, Fotos und Briefe des Onkels, aus denen sich lesen ließ, dass TM und Heuser nach ihrer Begegnung noch korrespondiert hatten. »Ein ziemlicher Hammer«, fand Pleschinski, der den »messbaren inhaltlichen Ertrag« gegen »die Intensität des Gefühls« abwägt.
Als Fährtenleser und Netzwerker bewährt sich Pleschinski ausgezeichnet. Während es gelegentlich schwächelt, wo das Klima der Wirtschaftswunderjahre weht, Düsseldorfer Lokalkolorit aufgetragen wird und der rheinische Typus sein Fett abkriegt, macht die literarische Auf- und Erfindung Spaß, sich steigernd mit der Kenntnis des Mann-Œuvres. Aber man könne und dürfe sein Buch auch »blank« lesen. Pleschinski verwebt die Fäden zum Familienteppich, wobei er einige Knoten zu viel knüpft, und bedient sich musterhaft des »Lotte«-Buchs. Es gab für ihn »kein Zögern«, sich den Gesprächs-Roman »Lotte« als idealtypisches Konstrukt zu nehmen.
THOMAS MANN ALS GEGENMODELL
»Cultur ist Parodie«, legt Thomas Mann darin Goethe in den Mund. Den Begriff der Parodie schätze er nicht so sehr, sagt Pleschinski. Lieber spricht er vom »Burlesken«. Das Ironisch Gebrochene als Form der Künstlichkeit, die wiederum größere Welterfassung erlaube, sei für ihn »Steilvorlage« gewesen. »Königsallee« lässt einige Personen Revue passieren, die dem aufnahmelustigen Klaus Heuser ihre Aufwartung machen und TM betreffende Wünsche an ihn richten: zunächst die stolze, herrische, Deutschland gegenüber unversöhnliche Garçonne Erika; Golo Mann in seiner eckig-ungelenken, ungeliebten Seinsart; sodann der »braun« gewordene und darüber verstoßene einstige Freund und Ratgeber Ernst Bertram. Sublim stellt sich der heikle Gefühlshaushalt des hohen Paares dar. Anteile von Eifersucht und Duldung, Kupplerschaft und Freundesdienst, praktischem Sinn und emotionaler Trübung werfen wechselndes Licht auf die Pringsheim-Tochter Katia. Die von Leistungs-Ethos und Leidens-Pathos durchdrungene Primelhaftigkeit des Nobelpreisträgers pariert den Angriff der Triebkräfte auf die Ordnung und weiß diese zu transformieren. Für Pleschinski setzt in unserem »Zeitalter des Sexismus« der Spätbürger TM in seinem »Maß der Enthaltsamkeit« damit ein Gegenmodell.
Schöne Färbung erhält Heuser selbst und sein indonesischer »Prinz« Anwar, die uns als Paar begegnen wie aus einem Roman des E.M. Forster oder Somerset Maugham. »Man musste solches wagen«. So beginnt Pleschinski das zentrale »Siebente Kapitel« von »Königsallee« und krönt den Gesamtaufbau gemäß der »Lotte«-Architektur. Wo dort Goethes Erwachen aus umgeistigter Fülle in die Forderung des Tages mündet, wird hier TM’s Loslösung von Schlafes Bruder sprachlich erfasst. Noch etwas glückt: das Finale in Schloss Benrath zu morgendlicher Frühe, fast ein Spuk und kleiner Sommernachtstraum. Für den greisen TM und Klaus Heuser wird der Ausflug zum melancholischen Epilog. Da spürt man Pleschinskis Impuls: »Bei allem Scherz ist mir das Geschriebene tiefer Ernst.« Insofern meint der Buchtitel nicht nur den Boulevard in Düsseldorf, sondern auch Thomas Manns Weg durch die Zeit und den Königsweg der Liebe ins Verheißungsvoll-Ungeheuere.
Hans Pleschinski, »Königsallee«; C.H. Beck, München 2013, geb., 393 S., 19,95 Euro.
Lesungen: 10. September 2013, Düsseldorf, Literaturhandlung im Heine Haus; 11. September, Meerbusch, Buchhandlung Mrs. Books; 12. September, Bonn, Buchhandlung Böttger; 22. Oktober, Bielefeld, Buchhandlung Thalia.