Wer von der Brüsseler Innenstadt zum heutigen Verwaltungszentrum der Europäischen Union will, der durchquert das Quartier Leopold. In diese Vorstadt zog es um 1920 immer wieder den jungen Kunststudenten Paul Delvaux: Der Bahnhof Gare du Luxembourg faszinierte ihn als malerisches Motiv, ebenso der breite Schienenstrang, der hinter dem Bahnhof das Viertel durchschneidet. Fortan ziehen sich nächtliche Bahnhofsszenen jahrzehntelang wie ein roter Faden durch das Werk des Künstlers, doch dem zeitgenössischen Publikum war die traumhaft-entrückte Atmosphäre in diesen Bildern oftmals zu düster und zu unheimlich. Größere kommerzielle Erfolge verbuchte Delvaux (1897-1994) hingegen bezeichnenderweise mit jenen Bildern, in denen unbekleidete Frauen vorkommen.
Neben René Magritte, zu dem er ein eher distanziertes Verhältnis pflegte, gilt Paul Delvaux als der bedeutendste Vertreter des belgischen Surrealismus. In Deutschland war er zeitweise nicht sehr bekannt, dies mag daran liegen, dass er sich mit seinem starren akademischen Malstil jeglichem Avantgardismus verweigerte, der die anderen Kunstströmungen des 20. Jahrhunderts prägte. Der Kunsthalle Bielefeld ist es nun zu verdanken, dass wir sein Werk neu entdecken können: Die Ausstellung zeigt auf beiden Etagen mit 40 Ölbildern und rund 30 Arbeiten auf Papier eine Übersicht vom Frühwerk in den 1920er Jahren, wo die Behandlung der Figuren noch recht flächig und ein wenig hölzern wirkt, bis hin zu den virtuosen großformatigen Gemälden in den 1970er Jahren. Erst im Alter von 90 Jahren gab Delvaux wegen zunehmender Sehschwäche die Malerei auf.
Er stammte aus einem streng katholischen Elternhaus, in dem er mangels eigenen Einkommens noch im Alter von 30 Jahren lebte und sich eine rigide moralische Kontrolle seines Lebenswandels gefallen lassen musste. Seine erste und einzige Freundin Anne-Marie Demartelaere, genannt Tam, trat erst in sein Leben, als der Maler bereits 32 war. Sie begründete das Thema der geheimnisvollen Frau in seinem Werk. Zwischen 1929 und 1933 taucht Tam in zahlreichen Porträts auf. In dieser Phase begann Delvaux schließlich, seine Frauenfiguren zu klassizistischen Ikonen zu stilisieren. Sie erscheinen steif wie eine Statue, körperlich unberührbar, und sie haben fast immer einen melancholisch-gedankenverlorenen Gesichtsausdruck. In »Les Femmes devant la mer« (1943) ergänzt er die beiden weiblichen Akte am Strand um eine Gruppe von Meerjungfrauen mit fischförmigem Unterleib. Sie schwimmen vor der Kulisse eines Industriehafens. In den alten Mythen und Märchen symbolisieren solche Wassernixen ein Bedürfnis nach Erlösung. Sie werden oft als seelenlose oder verdammte Wesen beschrieben. Noch 1965 variierte Delvaux dieses Thema der Unschuld und der Erlösung in »Les vierges sages« (Die braven Jungfrauen): Sieben weiß gekleidete Mädchen schreiten in feierlicher Prozession an einem Strand entlang. Statt Kerzen halten sie brennende Petroleumlampen in den Händen.
Die platonisch gebliebene Beziehung zwischen Paul Delvaux und seiner Angebeteten dauerte nur wenige Monate: Die Eltern drängten ihn, den Kontakt zu Tam abzubrechen. Nach dem Tod des Vaters heiratete er 1937 Suzanne Purnal – für Delvaux war dies eine reine Zweckehe, die ihm die Existenz als Maler garantierte. Die Ehe wurde geschieden, sobald er in den 40er Jahren als Surrealist über Belgien hinaus bekannt geworden war. 1952 konnte er dann endlich seine Jugendliebe Tam heiraten.
Nur vor diesem entsagungsvoll-verklemmten biografischen Hintergrund ist das Frauenbild in seiner Ikonografie zu verstehen. Er lässt seine weiblichen Akte antike Tempelstädte durchschreiten, romantische nächtliche Parks und Häuserkulissen, die er im Alltag in Brüssel oder an seinem Alterssitz an der flämischen Küste vorfindet: Das Mondlicht taucht diese Szenen in eine surreal-verträumte Atmosphäre, doch in Wirklichkeit bildet Delvaux eine Welt der kleinbürgerlichen Enge ab, die ihn wohl sein ganzes Leben lang bedrückt hat.
Paul Delvaux – Das Geheimnis der Frau, Kunsthalle Bielefeld, bis 21. Januar 2007 Tel.: 0521/329 99 50-0, www.kunsthalle-bielefeld.de