TEXT: ANDREAS WILINK
Vermutlich misst die öffentliche Meinung dem Abstand zwischen dem, was wirklich, und dem, was eingebildet ist, allzu große Bedeutung bei. Auch Phantomschmerzen tun weh. Für jemanden wie den New Yorker Psychiater Dr. Leo Liebenstein, der mit Seelenleiden vertraut ist, ist das alltägliche Beobachtung. Nun aber gerät er in die Situation, diese Erfahrung auf sich selbst anwenden zu müssen. Sein Bericht beginnt mit dem Satz: »Letzten Dezember kam eine Frau in meine Wohnung, die genauso aussah wie meine Frau.«
Die echte Rema ist verschwunden. Die Andere gleicht ihr haarklein, bis in den heufiebrigen Duft ihres Shampoos und den argentinisch-spanischen Akzent. Nur die plötzliche Zuneigung für einen Welpen irritiert. Denn Rema konnte Hunde nicht leiden. Dieser Fremden begegnet Leo mit Misstrauen, nennt sie für sich »das Simulacrum«. Ein prosaischer Mensch würde hier das Capgras-Syndrom diagnostizieren, bei dem ein Kranker der Illusion unterliegt, ein naher Angehöriger sei durch ein identisches Imitat ausgetauscht worden. Aber ist die romantische Vorstellung vom Doppelgänger nicht viel schaurig schöner?
Dennoch, eine Ahnung hat Liebensteins schon von dem, was passiert, und dass die Synapsen eigenwillig einschnappen. »Ich habe mir das Leben in meinem eigenen Kopf immer wie ein ungebärdiges Parlament mit einem schwachen Vorsitzenden und Splittergruppen ausgerasteter Extremisten vorgestellt.«. So spricht der verkappte Alleinherrscher.
Dabei hatte die Verschiebung der Wirklichkeit für ihn schon früher eingesetzt, wie dem Leser von Rivka Galchens »Atmosphärische Störungen« im Rückblick mitgeteilt wird. Als Liebenstein nämlich die nicht eben lehrbuchhafte Idee umsetzte, seinen Patienten Harvey mit dessen eigenem psychotischen Wahnsystem auszutricksen. Harvey glaubt sich beauftragt, als Geheimagent der Royal Academy of Meteo-rology, Wettererscheinungen zu kontrollieren. Leo und Rema erfinden einen Tzvi Gal-Chen, der als Autorität der Academy Weisungen erteilt und von ihm als Instanz zu akzeptieren sei.
Leo hat sich mittlerweile nach Buenos Aires aufgemacht, um Rema aufzuspüren, zunächst bei deren Mutter Magda, und sieht sich mit möglichen Rivalen, einem früheren Ehemann und dem verschollenen Vater Remas konfrontiert. Nichts ist gewiss, alles möglich.
Doch nun wird’s noch komplizierter. Nicht allein, dass der ominöse Gal-Chen (obgleich angeblich schon tot, wenn überhaupt existent) zum abwesenden, nur telefonisch erreichbaren Dialogpartner für Arzt und Patient wird. Er stammt zudem aus Rivka Galchens eigener Biografie: ist ihr früh verstorbener Vater, der als Professor für Meteo-rologie in Oklahoma in die exzentrische tragikomische Erzählung integriert wird und von dem sie sogar das Roman-Motto übernimmt.
Wer wollte sich in diesem Zeichenwald und Labyrinth der Chiffren und Schibboleths nicht verirren. Diffuses Licht fällt auf Normalität und Realität. Erkennbar wird ein verspiegeltes Blendwerk. Das Wirkliche eignet sich gut für Täuschungen. Dass Harvey etwa heißt, wie er heißt, hat wohl auch mit jenem zwei Meter großen Puka-Hasen aus der skurrilen US-Komödie »Mein Freund Harvey« von Mary Chase zu tun, die 1950 erfolgreich mit James Stewart verfilmt wurde. Auch Galchens Verweise auf Hollywood und Hitchcock sind keineswegs dem Zufall geschuldet.
Die Autorin, 1976 als Tochter israelischer Auswanderer in Toronto geboren und selbst Medizinerin, legt mit ihrem in den USA von Rezensenten gefeierten Debüt ein schräges, den Genres Groteske und Humoreske nicht ganz fremdes Konstrukt vor. Es ist intimer Lebens- und phantastischer Roman, klinische Studie, naturwissenschaftlicher Beitrag, freudianisch inspiriertes und ironisiertes Experiment – und vor allem eine wundersam zärtliche, noch den verstohlensten Gefühlsregungen nachspürende Liebesgeschichte.
Seiner eigenen Logik folgend, erschafft Liebenstein sich eine Parallelwelt im Kopf, wie wir sie monströser aus Elias Canettis »Blendung« kennen. Sein Glaubensbekenntnis bleibt unerschüttert, seine Schlussfolgerung lebensfreundlich. Man wird Leo Liebenstein einen glücklichen Menschen nennen dürfen.
Rivka Galchen: »Atmosphärische Störungen«, Roman; aus dem Amerikanischen von Grete Osterwald, Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2010, 315 S., 19,95 Euro.