TEXT: MARTIN KUHNA
Jasmin Hartmann kam als Studentin zur Provenienzforschung, indem sie sich an einem Dresdener Projekt beteiligte, das die Rolle des Kritikers Will Grohmann (1887–1968) als Netzwerker der Kunstszene umfassend aufarbeitet. Hartmann konzentrierte sich auf das enge Verhältnis Grohmanns zu Ernst Ludwig Kirchner und schrieb darüber auch ihre Magisterarbeit. Dazu gehörte die Sichtung jener Werke, in denen Kirchner seinen Förderer Grohmann abgebildet hatte. Eines davon – »Moderne Bohème« – ist heute im Besitz des »Minneapolis Institute of Arts«, USA. Wie war es dort hingekommen?
Es zeigte sich: Die 1924 entstandene Gemäldeversion der Atelier-Szene hatte Direktor Ernst Gosebruch schon 1925 für das Museum Folkwang angekauft. Zwölf Jahre später wurde das Bild als »entartet« beschlagnahmt. Es gehörte dann zu jenen Kunstwerken, die gegen Devisen ins Ausland verkauft werden sollten, mit Hilfe von vier Kunsthändlern: Bernhard A. Böhmer, Karl Buchholz, Ferdinand Möller und – Hildebrand Gurlitt. Karl Buchholz leitete die »Moderne Bohème« an Curt Valentin weiter, seinen ehemaligen Mitarbeiter, der als »Nicht-Arier« 1937 nach Amerika emigriert war und in seiner New Yorker Galerie mit »entarteter Kunst« handelte. Valentin war mit Kritiker Grohmann befreundet und mit Kirchner bekannt; das Bild hängte er in seiner Wohnung auf, wohl wis-send, dass es »der Kirchner aus dem Folkwang« war: Nichts könnte besser illustrieren, wie sich diese Kunsthändler verstrickten, als sie im Namen der Nazibonzen Geschäfte machten.
Mit diesem Projekt war die angehende Kunsthistorikerin Jasmin Hartmann also mittendrin im Thema Provenienz. Sie war als Studentin der FU Berlin außerdem am richtigen Ort, um es zu vertiefen: Dort hat es sich im Lauf der Jahre zu einem Schwerpunkt entwickelt. Seit 2011 existiert sogar ein komplettes Ausbildungs-Modul »Provenienzforschung« mit Vorlesungen, Seminaren und Übungen, angeboten vom Kunsthistorischen Institut in Zusammenarbeit mit der »Arbeitsstelle für Provenienzforschung am Institut für Museumsforschung der Staatlichen Museen zu Berlin«. Die »Arbeitsstelle« als bundesweite Koordinatorin staatlich geförderter Forschungsprojekte bietet außerdem ein zweijähriges Volontariat.
Volontärin Hartmann griff zu, als sich im Kölner Wallraff-Richartz-Museum eine erste richtige Stelle anbot. Seit Herbst 2013 hat sie dort einen hellen Arbeitsplatz, mit Blick auf die Dächer der Kölner Altstadt und mit direktem Zugang zum großen Aufzug, dessen kunstlastentaugliche Kapazität sie jedoch vorerst nicht nutzen wird, denn ihr Forschungsauftrag bezieht sich auf eher handliche Bestände der grafischen Sammlung, genauer: auf 2.500 Ankäufe für die grafische Sammlung zwischen 1933 und 1945. Das entspricht dem Prinzip der Berliner »Arbeitsstelle«, Forschungsprojekte nur zu fördern, wenn sie sich auf hinreichend verdächtige und überschaubare Bestände beziehen.
Naturgemäß geht es dabei weniger um »entartete« Kunst, auch wenn die Kölner Ankäufer sich – aus NS-Sicht – durchaus Fehlgriffe leisteten. Entscheidend ist die Vermutung, dass Kunst damals aus trüben Quellen angekauft wurde. Kunst, die ihre rechtmäßigen Besitzer unter Druck oder gar Zwang hatten hergeben müssen, womöglich weit unter Wert. »Raubkunst« also. Was sie erwarben, hielten die Kölner damals in Inventar-Büchern fest, mit den wichtigsten Daten und zuweilen mit liebevoller gezeichneter Miniatur-Wiedergabe des Bildes. Weit prosaischer ist die »Excel«-Liste, in die Jasmin Hartmann alles übertragen hat. Immerhin gibt es farbliche Unterlegungen, je nachdem, was aus dem Bild geworden ist, ob es noch im Haus ist und wie viel man darüber weiß. Natürlich forscht Hartmann den 2.500 Werken nicht planlos hinterher. Zeichnungen als Unikate haben Vorrang vor Druckgrafiken. Verdächtige Fälle vor eher unverdächtigen.
Zum Beispiel: Inventar-Nummer 1937/9, eine ätherische Zeichnung des Frühromantikers Philipp Otto Runge mit dem Titel »Die Genien auf der Lichtlilie« von 1809. Laut Inventarbuch wurde es bei der Leipziger Galerie C.G. Börner für knapp 12.000 Reichsmark erworben. Verdächtig wird der Erwerb durch das Ankaufsjahr: 1937. Da standen deutsche Juden schon unter brutalem Verfolgungsdruck und mussten oft weit unter Wert abgeben, was ihnen gehörte. Woher also hatte die Galerie das Werk?
Der Blick aufs Bild selbst brachte Forscherin Hartmann nicht weiter: Auf der Rückseite gibt es nur einen alten handschriftlichen Vermerk: »Original von Philipp Otto Runge«. Weitere Unterlagen wie die Rechnung fanden sich im Museum nicht – das Meiste, sagt Jasmin Hartmann, ist im Bombenkrieg verlorengegangen. Was blieb, könnte ins Kölner Stadtarchiv gelangt sein, aber das ist bekanntlich vor fünf Jahren in einen U-Bahn-Stollen gestürzt. Ob sich in den geretteten Beständen Verwertbares aus dem Wallraff-Richartz-Museum findet, wird Hartmann demnächst prüfen. Bei Runges »Genien« war es immerhin möglich, in der Galerie Börner nachzuforschen, die noch heute – in Düsseldorf – existiert. Tatsächlich entdeckte sie dort die Bestätigung, »dass wir die Zeichnung ersteigert haben«.
Neben der klassischen Literaturrecherche bedient sich die Provenienzforschung zunehmend des Internets. Es gibt zahlreiche öffentliche Webadressen zum Thema; unter einer fand sich der Katalog jener Versteigerung, bei der die Runge-Zeichnung am 19. Juni 1937 an das Wallraff-Richartz-Museum ging. Am Ende konnte Jasmin Hartmann feststellen, dass die »Genien« als »unbelastet« einzustufen sind: Der Sohn des Künstlers hatte das Blatt dem »Hamburger Künstlerverein« überlassen. Der wiederum ließ es 1937 in Leipzig versteigern. Indizien für Unrechtmäßiges gibt es nicht.
Einen Problemfall hat Jasmin Hartmann seit ihrem Start in Köln noch nicht identifiziert. Schön für das Museum, aber man darf annehmen, dass ein kritischer Fall aus Sicht der Forscherin schon spannend wäre, denn neben der Fähigkeit zu akribischem, kritischem Quellenstudium ist bei der Provenienzforschung auch detektivischer Spürsinn und Jagdinstinkt im Spiel. Das klingt nach einem recht einsamen Job, doch ist die Forscherin nicht ganz auf sich allein gestellt. Es gibt, so sagt sie, einen regen kollegialen Austausch mit anderen Provenienzforschern: Man ist vernetzt und hilft einander, nicht zuletzt über eine nichtöffentliche Website, in die Hartmann kontinuierlich die Ergebnisse ihrer Arbeit einspeist. Das gehört zu ihrem Auftrag. Angesichts des zeitlichen Drucks beim Thema »Raubkunst« folge ihre Arbeit nicht dem klassischen akademischen Muster: erst ausgiebig forschen, dann schreiben und eindrucksvoll publizieren.
Ihre Stelle ist zunächst auf ein Jahr befristet. Die Bewilligung eines zweiten muss sie jetzt schon beantragen. Allerspätestens nach drei Jahren ist Schluss, muss der Auftrag erledigt sein. Das ist bei Provenienzforschern so üblich; die meisten arbeiten freiberuflich in befristeten Projekten. Zwar hätte Jasmin Hartmann allein im Wallraff-Richartz-Museum genug zu erforschen, um – mit ihren derzeit 29 Jahren – gelassen der Rente entgegenzusehen. Doch sie weiß nicht, wie es weitergehen wird. Eine Festanstellung, irgendwann, irgendwo, fände sie nicht schlecht. Sie hofft, dass sich Provenienzforschung als kunsthistorische »Hilfswissenschaft« über die akute Frage der NS-Raubkunst hinaus in den Museen etabliert. Auf welchen Wegen ein Kunstwerk in ein bestimmtes Museum gekommen ist, das sei schließlich Stoff nicht nur für Karteien, sondern auch für die Präsentation und für Ausstellungen.
Das sieht ihr Namensvetter Uwe Hartmann von der Berliner »Arbeitsstelle« genauso. Der Aspekt des »Woher« habe bei der Kunstvermittlung lange eine ganz untergeordnete Rolle gespielt. In vielen Museen könnten Unbedarfte den Eindruck gewinnen: »Das war schon immer hier.« Insofern müsse Provenienzforschung kein auf NS-Folgen beschränktes Konjunkturphänomen bleiben, zumal auch andere historische Phasen bei zahllosen Kunstwerken die Besitzverhältnisse verwirrt haben: Revolution, Fürstenenteignung, Besatzung, DDR; »allein das Aufarbeiten der Säkularisierung wäre eine riesige Aufgabe.«
Deshalb wünscht sich der Leiter der Berliner »Arbeitsstelle«, dass auch andere Hochschulen ihre sporadischen Lehrangebote zum Thema ausweiten und verstetigen. Was feste Stellen angehe, so habe an den großen Museen oder Archiven eigentlich »jeder Direktor einen gewissen Spielraum«. Bei kleineren Häusern stelle sich die Frage, ob nicht doch dauerhafte Unterstützung durch den Bund angezeigt ist. Kooperationen bieten sich natürlich an, doch in der Hinsicht spielt Köln noch die Rolle des einsamen Pioniers: Dort gibt es eine eigene Referentenstelle für Provenienzforschung; sie bearbeitet Anfragen, koordiniert und betreut die an städtischen Museen laufenden Arbeiten. »Sinnvoll« findet Uwe Hartmann dieses Modell.
Köln kann auch vorbildlich sein.
www.wallraf.museum + www.lostart.de + www.arbeitsstelle-provenienzforschung.de