TEXT: MARTIN KUHNA
Wer »Zollverein« kennt, wird auf »Nordstern« einiges wiedererkennen. Tatsächlich ist das Bergwerk in Essen mit dem in Gelsenkirchen verwandt – nicht zuletzt durch die Handschrift des Architekten Fritz Schupp. Die Zollverein-Ästhetik des ausgemauerten Stahlfachwerks nahm Schupp 1953 bei Nordstern wieder auf; über Schacht 1 errichtete er einen kubischen Förderturm, wie er ihn schon für Zollverein geplant hatte. In sieben Stockwerken dieses Turms residiert ab jetzt das Videokunstzentrum, gemeinsam bespielt von der Münchener »Sammlung Goetz« und vom »neuen berliner kunstverein«.
Wie nun erstrangige Videokunst aus zwei wirklichen Kunst-Metropolen an diesen ungewöhnlichen Ort im Ruhrgebiet gelangte, wer auf diese Idee kam – das blieb bei der feierlichen Eröffnung Anfang Oktober im Nebel. Bernd Neuendorf, neuer Staatssekretär im NRW-Kulturministerium, brachte es immerhin über sich, von »einem seiner Vorgänger« zu sprechen, der auf Ingvild Goetz und ihre Sammlung gestoßen sei. Der Vorgänger hat einen Namen: Hans-Heinrich Grosse-Brockhoff, in der Regierung Rüttgers Kultur-Staatssekretär.
MEHR VIDEOKUNST FÜR NRW
Er ist, kurz vor Eröffnung des Nordsternturms, »sehr überrascht«, dass aus dem Projekt Videokunstzentrum nun doch noch etwas wird. »Angenehm überrascht«, schiebt Grosse-Brockhoff hinterher, denn in der Tat habe er Ingvild Goetz damals in München besucht und gefragt, ob sie sich vorstellen könnte, einen Teil ihrer Video-Sammlung in Nordrhein-Westfalen zu zeigen. Ein konkreter Standort habe ihm da noch nicht vorgeschwebt, sagt Grosse-Brockhoff. Nur der Gedanke, mehr Videokunst würde dem Land gut zu Gesicht stehen und auch keine ungebührliche Konkurrenz zu bereits existierenden Institutionen bilden. Ingvild Goetz sei sehr interessiert gewesen.
Davon berichtete Grosse-Brockhoff damals einem Mann, der jetzt eine Art Lord Voldemort des Ruhrgebiets ist. Er, dessen Name nicht (mehr) genannt werden darf, war seit 2007 einer von vier Programmdirektoren der »Ruhr.2010«. Außerdem war der Architekt Geschäftsführer der Wohnbaugesellschaft THS. Deren Verwaltung residierte im 2003 umgebauten Nordstern-Hauptgebäude, unter dem Fördergerüst des Schachtes 2. Der Turm über Schacht 1 hingegen war ein Problemfall: denkmalgeschützt, kaum zu nutzen – und sanierungsbedürftig. Der umtriebige THS-Chef, damals noch bei seinem Namen Karl-Heinz Petzinka genannt, suchte nach einer neuen, öffentlichen Rolle für den Turm.
Vom Thema Videokunst war Petzinka sofort »elektrisiert«, erinnert sich Grosse-Brockhoff. Und so entwickelte der THS-Mann sein mehrteiliges Konzept:Restaurierung des Turms, Konservierung der darin befindlichen Fördereinrichtungen und Vorbereitung dieser Stockwerke für das Video-Zentrum. Auch Sammlerin Goetz war nach einer Besichtigung begeistert. Wie zur Belohnung genehmigten Denkmalschützer einen vierstöckigen gläsernen Turm-Aufbau zur Nutzung durch die THS; Petzinka plante Chefbüros dort oben. Fürs Volk wiederum war über dem Glasaufbau eine Aussichtsplattform gedacht. Krönung sollte eine Groß-Skulptur werden. Alles in allem: ein weiterer »Hochpunkt« für Ruhr.2010 und eine Geburtstags-Fanfare zum 90-sten der THS.
DIE SACHE MIT DEM HERKULES
Die gläserne Aufstockung des Turms war in Gelsenkirchen stets umstritten; mehr noch die von Petzinka favorisierte Skulptur: ein riesiger, etwas grobschlächtiger und kampfversehrter »Herkules« von Markus Lüpertz. Petzinka setzte sich durch. Vor zwei Jahren, noch knapp vor dem Ende des Kulturhauptstadtjahres, wurde der 18 Meter hohe Herkules oben auf dem Erschließungsturm installiert. Aussichtsplattform und Videozentrum hingegen reihten sich in die lange Liste der verspäteten 2010-Projekte ein.
Anfang 2011 begann die Verwandlung des Karl-Heinz Petzinka in den unaussprechlichen Ruhr-Voldemort. Dass er nach Ablauf des Kulturjahres nicht mehr Programmdirektor war – logisch. Außerdem aber fusionierte seine THS mit dem Immobilienunternehmen der Evonik. Und ein halbes Jahr später gab das neue Unternehmen bekannt, man habe den Geschäftsführer Petzinka mit sofortiger Wirkung »freigestellt«. Gründe wurden nicht genannt.
Statt dessen waberten Gerüchte. Mit seinem machohaften Herkules-Spielzeug, so heißt es, habe der hyperaktive Petzinka sich am Ende verhoben. Die Finanzierung habe er womöglich an den Gremien der THS vorbei gefingert – und dabei immer eine Professorenstelle an der Kunstakademie seines Kumpels Lüpertz im Sinn gehabt. Stimmt nicht, sagt Petzinka heute. Die THS-Aufseher seien stets im Bilde gewesen; ein Verfahren wegen des Verdachts der Untreue sei rasch erledigt gewesen, »weil nichts dran ist. Ich habe nichts falsch gemacht.«
Er habe den Eindruck gehabt, so Petzinka, dass auf Nordstern nach seinem »erzwungenen Weggang« alles gestoppt wurde, was mit ihm zu tun hatte und seiner Vorstellung, wie sich das Immobilienunternehmen öffentlich darstellen sollte. Deshalb sei er nun ganz überrascht, dass außer dem Herkules auch das Videoprojekt überlebt hat. In aller Stille und trotz einiger technischer Schwierigkeiten hat das Unternehmen, seit Anfang 2012 unter dem Namen »Vivawest«, weiter an der Verwirklichung der Projekte »Videokunst« und »Besucherterrasse« gearbeitet und investiert nun jährlich sechsstellige Summen in deren Betrieb.
Zu diesem Zweck wurde ein Tochterunternehmen namens »Nordsternturm GmbH« gegründet. Die kuratorische Arbeit liegt ganz bei den Partnern: der Sammlung Goetz in München und dem »neuen berliner kunstverein«. Diese Kombination war schon zu Petzinkas Zeiten so geplant, und sie wird von beiden Parteien als sehr glücklich bezeichnet. Vor allem, weil die Sammlungen einander inhaltlich ergänzen: Während die Sammlung Goetz sich auf jüngere Videokunst konzentriert, liegt der Schwerpunkt des NBK-Videoforums eher auf frühen, bis zu 50 Jahre alten Arbeiten. Außerdem schätzt NBK-Direktor Marius Babias, dass eine private und eine öffentlich strukturierte Sammlung kooperieren. Die zunächst auf drei Jahre angelegte Vereinbarung sieht vor, dass die beiden Institutionen den Turm im halbjährlichen Wechsel gemeinsam mit Ausstellungen bespielen. Die erste läuft nun bis zum 28. Juli 2013 und heißt »Schichtwechsel«, mit mehr oder minder direkten Bezügen zur Arbeitswelt.
IM INNERN DER NEUEN AUSSTELLUNG
Der Besucher wird mit dem Aufzug im Erschließungsanbau bis auf die 11. Ebene des Turms befördert. Dort ist der Empfangsraum des Videokunstzentrums, mit der alten Fördermaschine im Mittelpunkt. Von dort aus geht es über Stahltreppen etappenweise hinunter bis zur 5. Ebene, von wo aus man zu Fuß oder mit einem internen Aufzug zur Ebene 11 zurückkehrt. Nur dort kann man den Aufzug zum Erdgeschoss nehmen. Das komplizierte Arrangement zeigt, wie schwierig die Räume im technischen Sinn zu nutzen sind – mit kleiner Grundfläche und eingeengt durch die Fördereinrichtungen. Für Videokunst aber, da sind sich die Beteiligten einig, seien sie, mit wenigen Einbauten unterteilt und abgedunkelt, ideal.
Bei »Schichtwechsel« besorgt auf der 10. Ebene der NBK den Auftakt, mit der großformatigen Installation »In Free Fall/After the Crash« von Hito Steyerl. Mit Aufnahmen von einem Flugzeugfriedhof und eingeschnittenen Spielfilmszenen bezieht sich Steyerl auf die jüngste Wirtschaftskrise. Es handelt sich, so Marius Babias, um eine Auftragsarbeit, entlohnt mit 5000 Euro, aber unterdessen schon vom New Yorker MoMa für ein Vielfaches angekauft. Auf Ebene 9 bietet der NBK dann einen Blick in die Geschichte: Auf 17 Monitoren, arrangiert in einem von Silke Wagner skulptural gestalteten Display, kann der Besucher Videos selbst abrufen, darunter Arbeiten von Pionieren wie Bruce Nauman und Nam June Paik.
Die Ebenen 8 bis 6 werden von der Sammlung Goetz bestritten. Die Bandbreite der Installationen reicht vom knapp minutenlangen Loop (Markus Selg, »Moloch (MS/V1)« bis zum dreistündigen Werk (Matthew Barneys legendärer »CREMASTER 3«). Die Unterschiede in Technik und technischer Qualität sind nicht minder groß. Formal wie ästhetisch zeigt sich, wie sehr »Videokunst« im Fluss ist. Mit dicken Kameras und leiernden Bändern hat sie einerseits heute nichts mehr zu tun – andererseits ist umstritten, inwieweit ältere Arbeiten ihrer ursprünglichen Hardware verhaftet sind, durch Digitalisierung und moderne Präsentation entwertet werden. Selbst für die sehr junge Installation »Motorcycles« der Britin Hilary Loyd mussten die prominent von der Decke hängenden Beamer gleichsam antiquarisch ausgeliehen werden: längst nicht mehr am Markt. Die Präsenz mehrerer Diaprojektionen zeigt, dass einerseits die Definition »Bewegtbild« sehr weit in Richtung Fotografie gedehnt wird. Andererseits unterscheidet sich eine Arbeit wie Jochen Kuhns poetische »Robert Langner, Biografie« von 1988 ästhetisch in nichts vom (experimentellen) Film.
Man braucht Zeit für diese Ausstellung. Dazu passen recht gut der intime Raumcharakter, die entschleunigende Wegführung und die technisch bedingte Einschränkung auf maximal 100 gleichzeitige Besucher im Turm. Bedauerlich dagegen ist, dass das Videokunstzentrum nur samstags und sonntags von 11 bis 18 Uhr geöffnet ist. Das sowie das Fehlen eines Kataloges, sagt NBK-Direktor Babias, könne sich bei den nächsten Ausstellungen ändern.
Auch werktags zugänglich ist dagegen die Besucherterrasse auf der 18. Ebene. Die Fernsicht ist erwartungsgemäß großartig. In der Nähe fällt der Blick unweigerlich auf das Hinterteil des Herkules. Denn der blickt unverwandt weg nach Nordnordost – als könne von dort irgendwann doch sein entschwundener Geburtshelfer zurückkehren. Zur Eröffnung war der, dessen Name nicht genannt werden darf, natürlich nicht geladen. Gekommen, sagt er, wäre er gern.
Nordsternplatz 1, 45899 Gelsenkirchen. Tel.: 0209/35 9792 4. www.nordsternturm.de