TEXT: ANDREAS WILINK
Der eine ist Royalist mit halbem Herzen und Demokrat mit ganzem Verstand. Er hat den terreur der Revolution ebenso wie Napoleons Aufstieg und Fall, das mediokre Wirken der Bourbonen und ihrer Nachfolger aus dem Hause Orléans hinter sich. Dem Anderen sitzt das Hemd näher als der Rock. Mit seinem Vater, einem englischen Wanderdrucker, gerät er als Knabe in eine politisch umtriebige Fälscherwerkstatt, die ausgehoben und abgefackelt wird. Nur der Junge kann flüchten und besteigt in Plymouth ein Schiff. Das freilich liefert ihn in der australischen Strafkolonie ab. Sein Retter – der exzentrisch ramponierte, sinistre und auch noch einarmige Marquis de Tilbot – wird als guter wie böser Dämon sein Leben begleiten.
Dieser »Monsieur« stellt die Verbindung her zwischen den zwei Exponenten sozialer Klassen und unterschiedlicher Temperamente. Hier Olivier-Jean Baptiste de Clarel de Garmont, Muttersöhnchen, verblasener und nonchalanter Geck, der sich zum Deismus bekehrt, Anwalt wird, liberaler Aristokrat ist und durch dieses Paradox eine prekäre Existenz. Dort der doppelt so alte Parrot Larrit, ein schlauer Leporello und rotschöpfiger Schwejk aus Devon, der seinen künftigen Brotgeber bei sich hämisch als »Lord Migräne« verspottet. Hinter dem respektlosen Wesen aber verbirgt sich eine Künstlernatur – das Talent eines Graveurs.
Das ungleiche Paar (begleitet von der umworbenen Mathilde Christian, die Delacroix’ berühmter, die Trikolore schwenkender Marianne ähnelt) bildet ein klassisches Muster. Herr und Knecht stehen, wie wir aus der Komödie und von Hegel wissen, in dialektischem Verhältnis zu-einander.
Geboren 1805, teilt Olivier de Garmont das Geburtsjahr mit Alexis de Tocqueville – nebst manch anderem biografischen Detail und vor allem der Reise nach Amerika im Jahre 1831. Im Staatsauftrag soll er, den die Recherche in der Neuen Welt womöglich vor der Verhaftung in der alten Heimat bewahrt, eine Studie verfassen »Über das Strafsystem in den Vereinigten Staaten«. Der Aufenthalt verschaffte Tocqueville Einsichten »Über die Demokratie in Amerika«, seinem Hauptwerk, das Olivier zwar nicht eigenständig geschrieben, aber verinnerlicht hat.
Bevor jedoch die Kameraden, die sich wechselseitig und aus ihrem jeweiligen Dünkel heraus eine derart vertrauliche Beziehung nicht nachsagen lassen würden, den Atlantik kreuzen, fließt viel Wasser die Seine bzw. den Ärmelkanal hinunter, und das Buch gönnt sich langen Atem, um die krause Früh- und Vorgeschichte seiner Hauptfiguren auszu-breiten. Erst Amerika, der große Gleichmacher, zwingt Olivier und Parrot aneinander.
Peter Careys historischer Bildungsroman ist abenteuerlich wie Robert Louis Stevenson, satirisch elegant wie Jonathan Swift, emotional mitschwingend, vergnüglich und raffiniert in den faktischen Fiktionen. Kapitelweise treten mal Olivier, mal Parrot als Ich-Erzähler auf, um ihre sprachlich wie ideologisch eigene Sicht mitzuteilen. Mit ihnen halten wir Hof in Pariser Salons, schaukeln im Bug eines Schiffes mit Häftlingsfracht, geraten in die berüchtigten Tombs von New York, treffen Quäker in Philadelphia, eine Menge schrulliger Gestalten und puritanische Gentlemen in ihrer Unrast und mit dem besonderen Sinn fürs Geschäft: Prototypen des leutseligen, aber etwas vulgären Yankee.
Wie es sich für das Genre gehört, folgen unerwartete Wendungen und Wiederbegegnungen, Missverhältnisse und Missverständnisse, Schicksalsschläge und Chancen. Aber damit ist es nicht getan. Zitate, Anspielungen und Verweise bezieht der 1943 in Australien geborene, seit langem in New York lebende Autor nicht nur aufs 18. und frühe 19. Jahrhundert. Er reflektiert »les mœurs«, was nur unzureichend mit Sitten und Gebräuche zu übersetzen ist, um sie mit parodistischem Ernst auf die Gegenwart der USA zu beziehen und in ihr zu spiegeln. Oliviers verfeinertes Empfinden registriert mit einer Mischung aus Bewunderung und Verachtung, wie in dieser Republik »die Tyrannei der Mehrheit« den Lauf der Dinge bestimmt und eine penetrante Gleichheitssucht die noblere, aber auch aggressiv behauptete Freiheitsidee auszehrt.
Peter Carey, »Parrot und Olivier in Amerika«, Roman, aus dem Englischen von Bernhard Robben, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2010, 556 S., 24,95 Euro.