TEXT: ANDREAS WILINK
Warmlaufen, fit machen, rein in die Trainingsklamotten, die aussehen wie Kampfanzüge oder umgekehrt: Bereit sein ist alles. Der Schulunterricht als Leben auf Probe – unter Extrembedingungen. Eine Lehrerin nimmt mit sieben Schülern, die Stunk machen wie Sieben mal Sieben, in der Theater-AG das Drama des »Sturm und Drang« durch am Beispiel von Schillers »Räubern« – und hat die Bande als Klassenfeind doch vor sich. Als Sonia Kelich aus dem Rucksack eines der Halbstarken eine Pistole vor die Füße fällt, setzt sie mit der Waffe die renitenten Kotzbrocken fest: Die Terrorisierte übt jetzt den Terror aus und zieht ihr Lehrpensum durch – mit dem stählernen Argument der Stärkeren. Das Stück, intelligenter, raffinierter und reflektierter als seine französische Filmvorlage, war der Sensationserfolg der Ruhrtriennale 2010: »Verrücktes Blut« von Jens Hillje und Nurkan Erpulat trägt den Krieg in die deutsche Schule und verkehrt bei hoher Dynamik die Verhältnisse, bis Eindeutigkeiten schwinden und schlichte Wahrheiten kompliziert werden.
In der Kammer des Theater Aachens spielen die Darsteller der fünf Jungen und zwei Mädchen »mit migrantischem Hintergrund« ihre Rollen ein bisschen zu demonstrativ. Obszöner Slang, Drohgebärden, Macho-Gehabe und Gangster-Coolness, die selbst immer schon Imitation sind und von Hillje/Erpulat noch mal durch die Klischee-Zentrifuge gejagt werden, wirken wie falsche Bärte einer Kostümparty und schwitzen wenig Authentisches aus. Das nimmt der Erzählung einiges von ihrer krassen Brisanz, nicht aber die direkte, zupackende Rasanz. Die Lehrerin klebt zunächst an ihren Notizen und doziert ins Leere, bis sie den Ausnahmezustand beherrscht, um den Schülern Bildung, Sprache, Disziplin, Selbstgefühl einzubläuen. Aber auch wenn sie herumballert, Bettina Scheuritzel ist brav wie eine Beamtenseele im Bürgerbüro. Die Anzahl der abgegebenen Schüsse steht konträr zu ihrer Autorität. Spannend wird Eike Hannemanns Inszenierung dort, wo Schiller, sein Freiheitsbegriff, seine Gefühlsaufladung und angewandte ästhetische Theorie ins Spiel kommen und die Schüler sich Knall auf Fall aus ihrem aggressiven Widerwillen in die geschmeidigen Kulturmenschen der Dramenliteratur verwandeln, sich die Aufklärungs-Parolen zu eigen machen und sie gegen Frau Kelich ins Feld führen.
Verknappt auf 80 Minuten, bleibt »Verrücktes Blut« Modellfall und Schaustück, das mit Identitätsmustern, Geschlechterrollen, ethnischen Rissen, Hass-Klischees jongliert, konträre Positionen ineinander spiegelt und unsere Wahrnehmung manipuliert und in Frage stellt: bis zum Schluss, wenn der zuvor gedemütigte, immer wieder zum »Nachfassen« seiner Männlichkeit genötigte kurdische Außenseiter Hasan (Felix Strüven) mit der Knarre räsonierend hantiert wie Hamlet mit dem Totenschädel. »Keiner kommt hier raus!« Aus dem Theater schon. Aber aus dem sozial unverträglichen System? Ausgang ungewiss.