EINE GLOSSE VON ULRICH DEUTER
Rares ist kostbar: Pandabären, seltene Erden, Kinder. (Kunst hingegen gibt es überreichlich, weswegen jüngere Menschen, weil sie zeit ihres Lebens Unmengen davon ausgesetzt waren, Kunst eher für überflüssig halten. Aber davon soll hier nicht die Rede sein. Oder doch?) Kinder also. Ihre Zahl schrumpft, ihr Wert steigt, die Politik reagiert mit Elterngeld, U3- und Ü3-Betreuungsprogrammen, JeKi-Musikförderung, Kulturrucksack, Alphabetisierungskampagnen für Gummibärchen mit Vibrationshintergrund …
Auch die Ruhrtriennale 2012 bestreitet ihr Programm ganz mit Kindern; wird sogar eine Jury aus Erstklässlern bilden, die die Qualität aller Aufführungen bewertet und aus deren Mitte dann der nächste Ruhrtriennale-Intendant bestimmt wird, so ist es mit dem Kultur- und Familienministerium abgesprochen. »Kinder an die Macht«, das Kampflied Herbert Grönemeyers, zeigt, 25 Jahre nach dem ersten Ton, Wirkung. Bis hinein in den Wahlkampf in NRW: »Politik aus den Augen unserer Kinder« verspricht CDU-Spitzenkandidat »Onkel Nobbi« Röttgen für die nächste Legislatur und fordert schon eine Verkleinerung der Stühle und Bänke im nordrhein-westfälischen Parlament. »Wir lassen kein Kind zurück«, lockt Hexelore Kraft noch den letzten Hänsel im Land in ihren Wahlkampfbus.
Noch allerdings wirkt die pädologische Neu-fokussierung der Altparteien etwas unbeholfen. Sylvia Löhrmann (Grüne) ist Kindgerechtes überhaupt noch nicht eingefallen – gut, der grüne Slogan »Solar statt so la la« könnte als Sprechlernübung eines Einjährigen gelten. Wie anders dagegen eine Partei, die sich ganz und gar und von Anfang an dem Kindlichen verschrieben hat: die Piraten. So wie in den 1970er Jahren die ökologische Bewegung und die Partei der Grünen aus dem Schock über die sichtbaren Grenzen des Wachstums und der Verpestung des Planeten entstanden, so ist die Gründung der Piratenpartei 2006 eine Folge des Schrecks vor der Welt jenseits des Kinderzimmers. Vormals, in der warmen Wanne, war alles so gut. Im Schaum schwamm das Seeräuberschiff von Playmobil, Mama hatte den Kapuzenbademantel vorgewärmt, sobald man drin steckte, gab es ein Nutella-Brot und »Wetten dass« mit Frank Elstner. Man lebte im Rundum-sorglos-Paket, alles war da, für nichts musste bezahlt werden – Florian Illies hat das Lebensgefühl sehr schön beschrieben, das zur Gründung der Piratenpartei führen sollte, samt dem Grund, warum sie Piratenpartei heißt.
Leider gab es außerhalb von Mamas Badewanne und Kapuzenfrotteemantel noch eine Welt. Raider ging, Twix kam, mit ihm kamen Leistungskurse und überfüllte Universitäten, und statt eines Berufs mit viel Geld kamen Dreimonatspraktika. Aber es kam auch das Internet – und da war wieder alles da: bunt, warm, verspielt und kostenlos. Weswegen die Piratenpartei in ihrem Wahlprogramm entschieden fordert, dass die Welt so werden muss wie das Web. Weil das World Wide Web so ist, wie damals die Playmo-Welt war. Die Piraten fordern: Wahlrecht ab zwölf! Keine Zahnspangenpflicht, kein Sitzenbleiben in der Schule; die Klassenstärke darf nicht mehr als ein Kind betragen. Für jeden einen Laptop. Für jeden einfach alles: Open Access! Bus-, Bahn- und Rolltreppefahren sind auch umsonst und jeder Mensch bekommt vom Staat ein »bedingungsloses Grundeinkommen«, also Riesentaschengeld sowie von Anfang an und bis ans Lebensende jemand, der ihm immer hilft. Wer das bezahlt? Na, die Erwachsenen eben, ha ha. Und ansonsten verstehen die Piraten ganz viel einfach nicht, da sind sie ehrlich. Darf man sie deshalb von der Regierung ausschließen? Das wäre doch gemein. Schließlich sind sie die lieben Kleinen, mit positivem Menschenbild und ehrlichem Weltverbesserungswillen. So steht’s im Programm.
Und die Hochkultur? Die ist für so kleine Hände einfach zu hoch. Deshalb haben die Piraten eine Liquid Feedback Software entwickelt, mit der die Massenkompatibilität elitärer Kunst künftig gemessen wird. Ist das nicht ein toller Widersinn? Genau. Klarmachen zum kentern! Ihre Piraten-Sie-mal-was-wir-wollen-Partei.