EINE GLOSSE VON ULRICH DEUTER
Manche Menschen lassen nur gelten, wenn der Schuss ins Schwarze trifft. Die Zwölf, oder gar nichts!, sagen sie. Und: Knapp vorbei ist auch daneben! Und dann lachen sie schadenfroh. Dabei ist das Fast, das Beinah der viel geheimnisvollere Zustand. Trifft etwas, sieht die Wirkung der Dümmste. Zack, und aus. Trifft etwas beinah, wird das Geschehene umflüstert vom Möglichen, umschließt den scharfen Umriss des Faktischen ein Schimmer. Denn fast ist nicht nicht. Fast steht in einem blinzelnd zögernden Verhältnis zur Absichtserfüllung, man könnte sagen, in einer Relation wie das Dispositionelle zum Manifesten. Darum gibt es für ersteres so recht keine logische Definition.
Paris zum Beispiel ist als Stadt ein Volltreffer. Darüber hinaus lässt sich über Paris nichts sagen. Münster hingegen ist eine Stadt des Beinah, Münster befindet sich in einem schwebenden Zustand, in harrender Hinneigung zum Gelingen. Einmal schrieb Münster fast Weltgeschichte, 1648. Im Weltkrieg wurde es fast zerstört, nachher beinah naturgetreu wiederaufgebaut. Im Krieg wiederum predigte Bischof Galen fast erfolgreich gegen Hitler, fast kam er dafür ins KZ. Am Ehrenstatus des Widerstandskämpfers geriet Galen knapp vorbei, dafür wurde er 2005 beinah heiliggesprochen: der selige Clemens August Kardinal Graf von Galen.
Auch Roland E. Koch ist ein Meister des Fast. Fast heißt er wie der richtige Roland Koch, fast ist er ein großer Schriftsteller. Jüngst hat er wieder einen Roman veröffentlicht, der fast so heißt wie ein berühmter Film von Godard: »Dinge, die ich von ihm weiß« nämlich. Fast handelt das Buch von Bischof Galen. Hauptfigur ist eine beinah reale Haushälterin, der Plot konstruiert ein Verhältnis zwischen ihr und dem Bischof, von dem die Galen-Forschung nichts weiß und aus dem eine Tochter hervorgeht, die erst recht Fiktion ist: Ein Einfall, der sich sehr abwartend gegenüber einer guten Romanidee befindet. Die Energie, mit der Koch seine Sehne spannte, war wohl Ärger über die unkritische Galen-Verehrung in katholischen Münsteraner Kreisen. Die Zwölf, zu dem sein Roman der Pfeil sein sollte, heißt Skandal.
Und dann schnellte die Sehne vor: Ausgerechnet in Vechta, also fast dort, wo Galen geboren ist, erfährt Münsterbischof Felix Genn, dass seinem Vorgänger in einem Roman »Unsittliches« nachgesagt wird. Sogleich ermahnt Genn seine Schäfchen, ein solches Buch, das einen Fastheiligen verunglimpft, keineswegs zu kaufen. Beinah füllt Genn dabei den Umriss eines Großinquisitors aus, eilends berichtet die Presse – zwischen den Zeitungszeilen flackert beinah Bücherverbrennungsfeuer. Kochs Verlag, Dittrich in Berlin, ist fast erfreut und druckt eine zweite Auflage. Was wird geschehen, wenn Roland E. Koch im mittelalterlichen Münster liest?
Die Zeitungen schweigen auf einmal, jetzt ermittelt K.WEST. Telefonische Nachfrage bei den Buchhandlungen im Münsterland: Gab es Droh-anrufe des Domkapitels, nächtlich-katholische Fackeln, Schaufensterscheibeneinwürfe? Ja, sagt der Buchhändler in Vechta, hier kam mal einer vorbei und hat das Buch fast gekauft. Danach keine Nachfrage mehr. Aber die Bücherläden in Münster! Der, der die Lesung mit Koch? – Gott ja, sagt die Sortimenterin, einer hat mich mal am Telefon beschimpft. – Druck vom Bistum? – Nein, wo leben wir denn! Das Buch interessiert nicht so viele. Der Lärm darum auch nicht. Bei der Lesung mit dem Autor gab es nicht mal fast einen Streit.
K.WEST beendet die Recherche; wenn Meister des Fast zusammenkommen, entsteht kein Skandal. Ein Skandal ist ein Treffer, da gibt es Geschrei und Köpferollen. Wie geheimnisvoll hingegen ist das Beinah eines Schattens, der plötzlich da ist, rasant wächst, alle Leute erschrickt und dann nur der Flügel eines kleinen Falters war, der der Lampe zu nah kam und sich nun verschämt davonmacht. So aber war und ist es in Münster, der Beinahstadt.