TEXT: NICOLE STRECKER
Der Mensch nutzt nur einen Bruchteil seines Denkvermögens. Choreograf Thomas Hauert findet das inakzeptabel. Seit er erkannt hat, dass man als Tänzer ohne zensierendes Bewusstsein besser ist, arbeitet er leidenschaftlich daran, den »Boss in der Birne« auszuschalten. »Das Bewusstsein hat viel mit Sprache zu tun, und das ist sehr limitierend«, sagt Hauert: »Bis man nur einen einzigen Tanzschritt erklärt hat!« Wie komplex ist allein der Vorgang des Gehens. Eine Choreografie wird immer unbeschreibbar bleiben. Um wie viel schneller und oft auch kreativer funktioniert da das neuronale System des Körpers allein!
»You’ve changed« lautet der Titel der Produktion, mit der Hauert und seine Kompanie ZOO jetzt bei der Ruhrtriennale zu sehen sind – eine Arbeit, mit der Hauert sich in der Tradition abstrakter Tanzkunst à la Trisha Brown aus den 60er Jahren sieht. In früheren Stücken, wie etwa dem großartigen, hochkomischen Anti-Musical »Walking Oscar«, hatte Hauert noch mit konkreten Settings gearbeitet, hatte mit seiner 1998 gegründeten Brüsseler Kompanie ZOO ganz leise und ganz schräg wunderbare Charaktere entwickelt. Unvergesslich sein weißgekleideter Cowboy, der mit bedeutsamem Gang auf die Bühne kam, um dann nichts weiter zu tun, als selbstbewusst die Blicke der Zuschauer zu genießen – ein krummbeinig-schmächtiger Macho-Narziss.
Doch schon damals attackierte Hauert die Dominanz des Wortes und bewies, dass auch der Körper, der Tanz ganz allein »Sinn« generieren kann. In »Accords«, Thomas Hauerts vorletzter Produktion, hatten er und seine Tänzer sich dann der puren Bewegungsanalyse zugewandt. Ließen die Zuschauer beim »Körper-Denken« zuschauen. Gemeinhin geraten solche Spontan-Performances zur Zumutung. Doch Thomas Hauert war drei Jahre lang Tänzer bei der Kompanie Rosas von Anne Teresa de Keersmaeker, und aus dieser Zeit ist ihm, wie er selbst sagt, vor allem eines geblieben: Drang zum Perfektionismus. Hinter seinem »Stegreif-Tanz« steckt monatelange harte Probenarbeit: Reaktionsgeschwindigkeit erhöhen, kreative Bewegungslösungen üben, so lange, bis sie auf der Bühne wie von selbst in den Körper kommen.
Dort verwandelt sich diese Art Selbstdressur dann in eine Art mühelosen Pointilismus. Wie ein einziger Organismus agiert eine Gruppe von Tänzern in »Accords«. Ein Schwarm, den es mal hierhin, mal dorthin auf der Tanzfläche verschiebt, der ständig die Formensprache ändert und in harmonischer Interaktion bleibt, obwohl jeder Tänzer die Bewegungsmodi auf ganz eigene Weise ausführt. Individuell im Unisono. Präzise, doch lässig. Und dem Witz der Persiflage bleiben Hauert und seine Tänzer weiter treu. Jede Art von »polierter Ästhetik«, sei es die Anmut des Balletts, sei es das Pathos des Ausdruckstanzes, wird mit Derrida’schem Frohsinn dekonstruiert. »Wir manipulieren den normalen Ausgang einer Bewegung. Wenn ein Körper fällt, hat man automatisch eine bestimmte Erwartung, wie er fällt. Und wenn man da den gewöhnlichen Verlauf ändert, wirkt das manchmal komisch.« Solche Nüchternheit kann – Hauert beweist es – eine äußerst ergiebige Quelle für Kunst sein. Der 43-jährige ist ein Virtuose im intelligenten Understatement.
Seine Produktion »You’ve changed«, eine Fortsetzung von »Accords«, klingt nun im Titel dramatisch wie ein Liebesdialog, meint auf der Bühne aber vor allem die tanztechnische Erkenntnis, dass der andere den Bewegungsmodus verändert hat. Wie in einem sportlichen Spiel, halbbewusst, blitzartig. »Intuition ist für mich kein spirituelles oder göttliches Phänomen«, sagt Hauert. »Für mich hat Intuition vor allem mit Nerven und Zellen zu tun, mit unserer Vergangenheit, unseren Erfahrungen und Erinnerungen.« So pragmatisch kann man sie auch sehen: die ewige Sehnsucht nach dem kreativen Funken. | NIS
»You’ve changed«, PACT Zollverein, 15.9., 16.9., 17.9., 18.9.2010. www.cznrw.de + www.ruhrtriennale.de