Es gibt nicht den einen Moment der Enthüllung, es ist vielmehr ein langsames Gleiten in die Wahrnehmung, dass es sich bei Lara um ein ‚ihn’ handelt bzw. gehandelt hat. Lara (Victor Polster) ist 15 Jahre alt und will Ballerina werden. Sie hat Talent, bescheinigt ihr die Ballettakademie, aber einiges aufzuholen. Mit ihrem sie in allem unterstützenden Vater Mathias (Arieh Worthalter) und ihrem kleinen Bruder Milo (Oliver Bodart) zieht sie nach Brüssel. Lara hat schönes langes blondes Haar und ein Gesicht, wie von Vermeer gemalt. Geboren wurde sie im Körper eines Jungen. Eine Ärztin und ein Therapeut begleiten und beraten sie. Sie beginnt ihre Hormonbehandlung, wartet, dass ihr Brüste wachsen, klebt sich beim Training im Trikot den Penis ab. Die Haut ist wund und rot von den Pflastern. Sie fordert sich. Der enorme Leistungsdruck, dem sie sich unterwirft, ist ein mehrfacher: Pubertät, Schule, Tanzausbildung, Identitäts-Ungewissheit. Da wundert es nicht, dass sie Gefühle »auf Pause« stellt, aber zugleich neugierig ist auf den Körper eines Anderen. Dass sie in Gefahr ist, durchzudrehen, nicht nur auf dem Tanzboden.
Auf ihrer neuen Schule wird sie geoutet, als der Klassenlehrer fragt, ob eine der Mitschülerinnen ein Problem damit hätte, wenn Lara im Umkleideraum der Mädchen anwesend wäre. Das sind die Art der Demütigungen, denen sie sich ausgesetzt sieht. Manche werden begangen aus Unachtsamkeit. Manche sind grausam. Der Beginn der Geschlechtsumwandlung mittels Medikamenten, bevor die Operation zwei Jahre später folgen kann, wird zuhause gefeiert als ihr Geburtstag. Laras Ausdruck ist oft streng, eher wohl noch angestrengt, sanft, konzentriert und verschlossen. Vor dem Spiegel prüft sie sich in ihrer Nacktheit. In der Festival-Sektion »Un certain regard« von Cannes ausgezeichnet, wäre diese sensible Studie nur unzureichend als spezielles Gender-Drama charakterisiert. »Girl« erzählt von der Scham der Adoleszenz, den Zumutungen des Geschlechts und grimmigen Festlegungen des Erwachsenseins, der Krise der Ich-Findung und der Unschärfe in den Dingen.
»Girl«, Regie: Lukas Ghont, Belgien 2018, 105 Min., Start: 18. Oktober 2018