REZENSIONEN: ANDREAS WILINK
GEWÜRFELT, NICHT GERÜHRT
Woody Allens »Ich sehe den Mann deiner Träume«
Thema und Variation. Alles wie immer, auch in Film Nr. 41. Mal ist einer etwas romantischer oder sarkastisch, der nächste kommt als ironiefreie moralische Geschichte, ein anderer als moderne Screwball Comedy. Woody Allen hat sein Baukastensystem, dessen Konstruktionsprinzip man meets woman meistens perfekt funktioniert. Nur gelegentlich klappert die Mechanik etwas in den Scharnieren. Aber hat die Liebe nicht auch ihre Höhen und Tiefen? London ist mittlerweile Allens zweites filmisches Zuhause, und englische Taxis, Parks und die Themse sehen bei ihm so aus, dass man sich stets vorstellen kann, wie die gleiche Szene in Manhattan fotografiert worden wäre.
Eigentlich brauchte Allen keine Shakespeare, den er gleich zu Anfang zitiert, um zu erklären, dass das Leben hauptsächlich aus trouble and confusions besteht. »Ich sehe den Mann deiner Träume« schaut sich bei einer Familie um, in der sich gerade neue Beziehungen anbahnen. Das Ehepaar Helena und Alfie trennt sich nach 40 Jahren. Sie (Gemma Jones) ist deprimiert, flatterig, unablässig schnatternd und findet Trost im Okkulten und Spirituellen, bei Reinkarnation und dem Humbug einer Wahrsagerin. Er (Anthony Hopkins) ist euphorisch und findet – gebleicht, getrimmt, gebräunt und finanziell gut gepolstert – Trost in der reinen Gegenwart: im Jugendwahn bei einer ordinären, überjungen Blondine (Lucy Punch), deren gewerbsmäßige Talente der Senior (wenngleich nur mit Hilfsmittel) genießt, die das Nummern-Girl aber nach der Heirat mit dem verliebten Esel vorzugsweise einem Fitnesstrainer zukommen lässt.
Alfies und Helenas Tochter Sally (Naomi Watts) und ihr Mann Roy (Josh Brolin) haben gleichfalls Probleme. Seine schriftstellerische Karriere scheint nach einem Roman bereits zu Ende; ihr Assistenzjob in einer Galerie, die dem smarten Greg Clemente (Antoinio Banderas) gehört, soll ihr nicht allein berufliche Perspektiven bieten. Und dann ist da noch die Frau gegenüber – Dia (Freida Pinto), ein Traum in Rot, wie geschaffen als Muse für einen Künstler in der Schaffenskrise.
Woody Allen würfelt die Verhältnisse munter durcheinander und benutzt als Spielmaterial und Reizmittel u.a. Schokotrüffel, Cartier-Klunker, Viagra-Pillen und die herrliche Musik von Boccherini. Wir aber bleiben ungerührt und legen die offenen Fragen am Ende zu den eigenen ungelösten.
»Ich sehe den Mann deiner Träume«; Regie. Woody Allen; Darsteller: Antonio Banderas, Josh Brolin, Anthony Hopkins, Gemma Jones, Freida Pinto, Lucy Punch, Naomi Watts; USA 2010; 98 Min.; Start: 2. Dez. 2010.
INCH ALLAH UND AMEN
»Von Menschen und Göttern« von Xavier Beauvois
Die Bibel liegt neben dem Koran, die Benediktinerregel neben einem Buch des Franz von Assisi. An diesem Ort herrscht kein religiöser Fanatismus. Hier gilt das Ora et Labora – Gebet und Choralgesang zu den vorgeschriebenen Stunden in der Kapelle, Gartenarbeit, deren Ertrag auf dem Markt verkauft wird, Imkern, Schreiben und Heilen. Lange könnte man »Von Menschen und Göttern« für einen Dokumentarfilm halten, so still und stumm ist er in seiner reinen Betrachtung des Ablaufs mönchischen Lebens in einem Kloster am nordafrikanischen Atlasgebirge. Die neun Trappisten-Brüder mit ihrem Abt Christian (Lambert Wilson) sind Ärzte des Leibes und der Seele. Täglich kommen die Bewohner des mit dem Kloster entstandenen Dorfes sowie Kranke und Bedürftige der Umgebung, um sich vom alten asthmatischen Bruder Luc (Michael Lonsdale) helfen zu lassen.
Schlechte Nachrichten erreichen die Ruhe des Klosters. Es sind die 90er Jahre. Extremisten der GIA (Groupe Islamique Armé) terrorisieren Algerien, fordern Ausländer zum Verlassen des Landes auf, ermorden Lehrerinnen, Imame, kroatische Bauarbeiter, Mädchen, die sich unverschleiert in der Öffentlichkeit zeigen. Einer der Mönche zitiert ein Wort Pascals: »Nie tun Menschen etwas Böses so gründlich und gut wie aus religiösen Motiven«. Die korrupte Regierung entsendet Militär, das auch nicht viel besser ist als die Fundamentalisten. Als die Mudschahedin ins Kloster von Tibhirine eindringen, stellt sich ihnen Christian mutig entgegen: zunächst erfolgreich. Die innere Entscheidungsfreiheit eines Christenmenschen, spirituelle Verwurzelung und das Vertrauen in Gott geben ihm Kraft. Dennoch stellt sich für die gefährdete Gemeinschaft die Frage nach der Zukunft, zumal die Behörden sie drängen, nach Frankreich zurückzukehren. Aber sie fühlen sich – trotz Zweifel, Ängsten und Krisen – in der Pflicht: vor dem Herrn, dem eigenen Gewissen, dem Dorf und der Welt. »Der gute Hirt bleibt, wenn der Wolf die Herde bedroht.« »Weggehen bedeutet sterben – aber Bleiben womöglich auch.« Ihre geistige Gelassenheit, duldsame Abgeklärtheit und freudige Versunkensein in die Passion Christi machen sie auf gewisse Weise unverwundbar. Das gelebte Mysterium der Inkarnation, das Weihnachtswunder, führt sie von Aufgabe zu Aufgabe. Inch Allah!
Xavier Beauvois’ Film, der in Cannes u.a. den Großen Preis der Jury 2010 erhalten hat, ist ein wahres Meisterwerk, tief beeindruckend in seiner Klarheit, Bestimmtheit und Schlichtheit – auch dank der vorzüglichen darstellerischen Leistungen. Einmal sitzen die Brüder wie zum Letzten Abendmahl gemeinsam am Tisch, essen, trinken Wein und hören Tschaikowskys »Schwanensee«, als sei es ein Requiem. Es ist die Nacht, da ihre Mörder kommen, die nicht wissen, was sie tun. Das Bild der mühsam durch den Schnee stapfenden Mönche, bewacht von ihren Geiselnehmern, wird man so schnell nicht vergessen. Sieben der Brüder wurden im Mai 1996 enthauptet. Man fand ihre Köpfe, ihre Körper nicht. Das Verbrechen ist bis heute unaufgeklärt.
»Von Menschen und Göttern«; Regie: Xavier Beauvois; Darsteller: Lambert Wilson, Michael Lonsdale, Olivier Rabourdin, Philippe Laudenbach u.v.a.; Frankreich 2010; 120 Min.; Start: 16. Dez. 2010.
AMERIKAS NACKTE SEELE
»Howl – Das Geheul« über Allen Ginsberg und sein Poem
Noch einmal die 50er Jahre. Noch einmal, wie beim »Nowhere Boy« John, ein Aufbruch. Eine Gegenstimme zum Chor-Konzert bürgerlicher Harmonie. Allen Ginsbergs Großgedicht »Howl – Das Geheul« steht 1957 vor Gericht. Nicht in Person des 30-jährigen Autors, sondern seines Verlegers Lawrence Ferlinghetti. Die Anklage lautet: Obszönität. Dem Werk fehle die »moralische Größe«, wie eine Sachverständige erklärt. Der ewige Vorwurf vom Verderber der Jugend, vertreten durch den Staatsanwalt, der eifrig aus dem Buch zitiert, »Schwänze« und »Mösen« herauspräpariert und Zeugen nach dem literarischen Wert befragt, steht im Raum, während der Kalte Krieg wütet, Amerika sich von seinem Einsatz in Korea erholt, in Little Rock Farbige ihre Bürgerrechte einfordern und Elvis Presley Paul Anka, Tab Hunter und Debbie Reynolds in den Hitlisten ablöst.
Die Filmemacher Rob Epstein und Jeffrey Friedman, die u.a durch ihre erhellende Dokumentation »The Celluloid Closet« über die Ausgrenzung schwuler und lesbischer Liebe und deren Rollenmuster in Hollywood bekannt wurden, heben in »Howl« eine linear narrative Struktur auf. Orientiert an Aufzeichnungen und Interviews Ginsbergs, der im Abspann selbst kurz auftaucht, entwickeln sie eine doku-fiktionale Mischform.
Ginsberg (hervorragend: James Franco) wartet in seiner Wohnung auf das Urteil und vertraut seine Gedanken – Feeling und Meaning – einem Tonbandgerät an. Gleichzeitig und in Parallelmontage sind wir Prozessbeobachter, erleben die erste emphatische Lesung Ginsbergs in einer Galerie und irren mit dem Verfasser durch die Strophen des von Walt Whitmans »Leaves of Grass« ebenso wie vom jüdischen Kaddisch beeinflussten Lang-Poems. Hierbei löst sich »Howl«, beginnend mit dem Vers »Ich sah die besten Köpfe meiner Generation zerstört vom Wahnsinn«, in einen grell surrealen, im Rhythmus des Jazz komponierten Comicstrip auf. Aus Schreibmaschinen-Typen werden Noten werden Bildfolgen eines von Cézanne, Dalì, Orwell und »Metropolis« inspirierten Totentanzes. Ein Trip durch Stadt, Land und den Moloch Moderne, die Eingeweide und Hirnwindungen des Widmungsträgers Carl Solomon und Ginsbergs und ihrem Leiden an sich, der Welt und der Zeit.
Ginsberg war schwul – und das war für ihn erst mal gar nicht gut so, bis er Homosexualität als Glücksspender und als Zustand zur Schärfung der eigenen und gesellschaftlichen Wahrnehmung akzeptierte. Einsam, gepeinigt von phallischen Phantasien und depriviert, steckt man ihn für acht Monate in die Psychiatrie, wo schon seine Mutter zu Tode kam. Er trifft Jack Kerouac, will raus aus der Angstfalle und seine Selbstablehnung überwinden, verliebt sich unglücklich in den »Adonis« Sean Cassady, geht nach Frisco, häutet und findet sich und begegnet seinem Lebensmenschen Peter. Das Urteil über »Howl« lautete übrigens: Freispruch.
»Howl – Das Geheul«; Regie: Rob Epstein & Jeffrey Friedman; Darsteller: James Franco, Mary-Louise Parker, Jeff Daniels, David Strathairn, Treat Williams; 90 Min:, USA 2010; 90 Min.; Start: 6. Jan. 2011.
UNSER DORF SOLL SCHÖNER WERDEN
»Immer Drama um Tamara« von Stephen Frears
Ewedown sieht aus, als hätte es Agatha Christie erfunden. Ein Flecken im Grünen, schmucke Cottages – jeder kennt jeden, verdächtig sind alle, aber nur einer hat’s getan. Bei Stephen Frears aber geht es nicht um Mord, sondern um die andere große Leidenschaft: die Liebe. Und da tun fast alle mit. Die Vorlage für seine Komödie »Tamara Drewe« über Landeier und Literaten, Teenies und Oldies in der Grafschaft Dorset ist auch kein Krimi, vielmehr eine Referenz an Thomas Hardy, den letzten großen viktorianischen Schriftsteller, der die kleinen Ironien des Lebens betrachtete und den Frauen meistens mit mehr Sympathie begegnete als den Vertretern des eigenen Geschlechts. Dass das Drehbuch neben Hardys Roman »Am grünen Rand der Welt« von einer Graphic Novel-Serie inspiriert wurde, mag man hier und da an den etwas stereotypen, auf ihre Marotten beschränkten Figuren merken, die aber auch unter der Rubrik ›typisch englisch‹ abzulegen wären.
Der Besitz des Erfolgsautors Nicholas Hardiment (Roger Allam) dient als Residenz für werdende Poeten, die sich zur Sommerfrische einquartieren und auf ein gelegentlich inspirierendes Colloquium mit dem Hausherrn warten. Der bemerkenswerteste Gast ist ein misanthropischer Literaturprofessor, der seine Schreibblockade, bezogen auf seine Biografie über besagten Thomas Hardy, am ehesten in der Küche bei Mrs Hardiment verliert. Ihr Gatte, der dichterische Freiheit als Lizenz für den Dichter interpretiert, betrügt sie nach Strich und Faden. Aktuell mit der nach einer Nasenoperation fantastisch verschönten Tamara Drewe (Gemma Arterton), die das ererbte Gutshaus nebenan von ihrer Jugendliebe, dem Gärtner und adretten Naturburschen Andy (Luke Evans), wieder schmuck herrichten lässt. Zwischendurch hat sie eine heiße Affäre mit einem Rockband-Drummer- und Coverboy (Dominic Copper), der seine Sticks auch sonst einzusetzen versteht und zur Steigerung der Konfusion ein pubertierenden Dorfgirl zu allerlei Unfug anregt.
Das ist salopp und überwiegend heiter inszeniert, wenngleich – außer als großartig funktionierender Ensemblefilm – etwas belanglos. Darin nicht anders als Woody Allens betagte »Sommernachts-Sex-Comedy«. Vielleicht hätten sich die vier Kapitel, die die Jahreszeiten umfassen, etwas kürzen lassen. Frühlingsgefühle gibt es satt, Herbststimmung auch. Der Winter des Missvergnügens bricht trotzdem nicht an. Das saubere Dorf verlangt nach einer schönen Moral. Die kriegt es auch.
»Immer Drama um Tamara«; Regie: Stephen Frears; Darsteller: Gemma Arterton, Roger Allam, Bill Camp, Dominic Copper, Luke Evans; England 2010; 111 Min.; Start: 30. Dez. 2010
SCHMINKE UND SCHWERMUT
»House of Boys« über die Zeit vor und mit AIDS
Als Jonathan Demme 1993 in »Philadelphia« Tom Hanks an der HIV-Infektion erkranken und sterben ließ, war das nach der Öffentlichmachung der Aids-Erkrankung Rock Hudsons 1985 die erste große, populäre Beschäftigung Hollywoods mit dem Thema jenseits eines Minderheitenprogramms. Das lag vor allem auch daran, dass das Publikum Hanks, der einen sozial etablierten, erfolgreichen Anwalt, Freund und Sohn spielte, alles zutraute, nur nichts Abwegiges und Fragwürdiges. Die Figur des Andrew Beckett war zwar schwul, aber ansonsten einer wie alle oder sogar etwas besser. Aus den Schlagzeilen ist Aids seit der Jahrtausendwende etwas verschwunden. Meistens blickt man zurück auf die 80er Jahre des großen Sterbens. So auch der Belgier Jean-Claude Schlim in »House of Boys«.
Mit Leidenspathos erzählt sein Debüt die Geschichte von Frank (Layke Anderson), der mit 18 sein bürgerliches Zuhause in Luxemburg hinter sich lässt, um in Amsterdam sein Coming-Out exzessiv auszuleben, zum Star einer Stripteaseshow in einem Travestie-Club zu werden, sich in den Amerikaner Jake (Ben Northover) zu verlieben und dessen tödliche Krankheit bis zum fürchterlichen Ende zu begleiten. Wenn Mahalia Jackson (die Szene wurde Douglas Sirks Film »Imitation of life« entnommen) den Gospel »Trouble in the world« singt, gibt es kein Halten mehr.
Die innige Betroffenheit tut der Sache zwar nicht besonders gut. Doch als Rekonstruktion einer Zeit, wenn auch unter sehr speziellem Blickwinkel, ist der Film fast ein Dokument. Reales Märchen und Drama in drei Akten über sexuelle Befreiung, komplizierte Selbstfindung, Suche nach Identifikation und lustvolle Euphorie im Schmelztiegel von Hippie, Punk, Rock und Pop, Kitsch und Klischee, Schminke und Schwermut. Es ist wie La Bohème unter schwulen Jungs und dabei – inklusive Udo Kier als »Madame«, Chef des Transen-Lokals – ziemlich too much und kultverdächtig. Nach der trashigen Camp-Comedy »Myra Breckinridge« von 1970 und »Priscilla, Königin der Wüste« von 1994 hat »House of Boys« Chancen, auf einer rosa Hitliste obenan zu stehen.
»House of Boys«; Regie: Jean-Claude Schlim; Darsteller: Layke Anderson, Ben Northover, Udo Kier und Stephen Fry; Luxemburg/Deutschland 2009; 113 Min:, Start: 2. Dez. 2010.
IN DER WELT VON GESTERN
Chris Kraus erzählt von »Poll«
In der Literatur sind die baltischen Gebiete aufgehoben in den wehmütigen Erzählungen des Eduard von Keyserling, in denen die Natur den Atem vorgibt für das menschliche Schicksal. Im Leben der Autorin Oda Schaefer (1900 bis 1988), einer Großtante des Filmemachers Chris Kraus, blieb das Baltikum eher Episode, aber offenbar einprägsam genug, um ihren Großneffen zu einer langen, langen Film-Novelle über eine »Unerhörte Begebenheit« zu inspirieren, die der Halbwüchsigen im Sommer 1914, kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs, zustieß.
Oda (Paul Beer) reist aus Berlin mit einem Sarg an: darin der Leichnam der Mutter, die von ihrem Mann Ebbo von Siering geschieden war. Die Tochter kehrt zum Vater zurück, der mit zweiter Frau (Jeanette Hain) und den Kindern dieser Ehe ein fantastisches Anwesen bewohnt und über den sie sagt, er hege »die größte Zuneigung für den Tod«. Der Arzt und Wissenschaftler (Edgar Selge), von seiner Zunft geschnitten, betreibt Experimente, sammelt Föten, sägt Schädel auf, untersucht genetische Fehlentwicklungen und präpariert Gehirne, merkt aber nicht, was im Innern der Menschen um ihn herum vorgeht. Ein kultivierter Frankenstein, der Schubert musiziert, Leseabende veranstaltet und protestantisch rigide den Sohn züchtigt; ein Repräsentant des deutschen Adels, der treu zum Zaren steht und die estische Bevölkerung nach Feudalsitte unterjocht. Gleich zu Beginn werden estische Anarchisten von der russischen Armee aufgespürt und erschossen. Nur einer kann sich retten. Oda – klug, wissbegierig, couragiert und emanzipiert – findet, versteckt und pflegt ihn und will mit dem blonden Jüngling fliehen.
»Poll«, benannt nach dem Ort und dem Gut, liegt an der See. Auf Stelzen ins Wasser gebaut, gleicht das abblätternde Herrenhaus einem aus Venedig nach Nordosten verpflanzten Palazzo. Das Gebäude gibt die morbide Stimmung vor, der die Geschichte und die (zu exquisite) Kamera von Daniela Knapp mehr als reichlich nachgibt. Das Cello weint in Moll dazu und bestätigt ahnungsvoll das Unheil. Es ist, als würden die braven Erzähltraditionen des Neuen deutschen Films eines Schlöndorff und Geißendörfer reanimiert: gediegene Kunstanstrengung, gute Schauspieler, gepflegte Langeweile. Seltsam, dass jemand wie Chris Kraus, der mit »Vier Minuten« effektbewusst am Puls der Zeit war und rhythmische Gespanntheit erreichte, sich ins Historische und pittoresk Unverbindliche verabschiedet. Der Brand, der schließlich das Labor zerstört, will das Ende einer ganzen Welt anzeigen. Aber das Feuer beleuchtet dann doch nur ein schales Melodram.
»Poll«; Regie: Chris Kraus; Darsteller: Paula Beer, Edgar Selge, Tambet Tuisk, Jeanette Hain, Richy Müller; Deutschland 2010; 136 Min.; Start: 6. Jan. 2011.
EINE ZAHL AUF DER GLÜCKSSKALA
»Another Year« von Mike Leigh
Wenn man das menschliche Leben nur so gut bestellen könnte wie einen Garten, der nach der Ordnung der Natur durch die Jahreszeiten eingerichtet ist und wird.
Mike Leighs »Another Year« gliedert sich entsprechend in vier Abschnitte, benannt nach Frühling, Sommer, Herbst und Winter, wobei die Monate, da die Blätter fallen und die Ernte eingefahren wird, den Figuren am nächsten kommt. Sie gruppieren sich um das Ehepaar Tom und Gerri (Jim Broadbent, Ruth Sheen), die ein hübsches Haus in der Londoner Vorstadt bewohnen und draußen noch einen Schrebergarten besitzen. Der Geologe und die Therapeutin haben um sich einen kleinen Kreis von Freunden und Kollegen, die sie zu sich einladen und die sie bekochen, denen sie allzeit ihre Tür und ihr Ohr öffnen. Ihre etwas betulich provinzielle Harmonie droht schon mit Langeweile.
Sie sind gut miteinander, sind tatkräftig, lebensmutig und uneigennützig. Ihre Gemeinschaft scheint intakt. Sie bildet einen Schutzraum, aber kann auf fast schon feindselige Weise auch den Ausschluss herstellen. Sie machen es besser als die aufgedrehte, ihren Mitteilungsdrang nicht zügeln könnende Mary (Lesley Manville), die von Tag zu Tag nervöser, einsamer und verzweifelter in ihren Illusionen wird. Besser als Ken (Peter Wight), Toms Jugendfreund: Alkoholiker, Kettenraucher, übergewichtig und voller stiller Wut. Besser vielleicht auch als ihr Sohn Joe (Oliver Maltmann), dem Anwalt, zumindest bis er endlich eine Freundin, Katie, gefunden hat.
Besser vor allem als die Frau in mittleren Jahren, der wir in der ersten Szene (und dann nicht mehr) begegnen, als sie sich von ihrer Ärztin wegen Schlafstörungen behandeln lassen will und ein Zimmer weiter zu Gerri geschickt wird. Die befragt sie, wo auf der Skala von Eins bis Zehn eines Glücksmessers sie sich einordnen würde: »Eins«, lautet ohne Zögern die Antwort: »Nichts ändert sich«, so die depressive Einschätzung.
Wenn es einen britischen Tschechow der Gegenwart gibt, ist es Mike Leigh mit seiner Meisterschaft, im Unscheinbaren der englischen Mittel- und Unterschicht das Wesentliche und Wesenhafte von Existenz zu entdecken und den Mangel zu erfühlen. Was niemals ohne die Darsteller gelänge, deren Alltagsgesichter nicht über ihre schauspielerische Qualität hinwegtäuschen sollten.
Ein Jahr vergeht, nicht viel passiert. Aber wir bemerken: Tom und Gerri, die das Zentrum bilden, sind eigentlich bloß die Projektionsfläche, auf der die anderen, die weniger Glücklichen älter, trauriger, einsamer werden und spüren, wie sie das Leben versäumen. »Woran scheitert man?«, fragt Fontane: »Immer an der Wärme«.
»Another Year«; Regie: Mike Leigh; Darsteller: Jim Broadbent, Ruth Sheen, Lesley Manville, Phil Davis, Imelda Staunton; Großbritannien 2010; 129 Min.; Start 27. Jan. 2011.