TEXT: ANDREJ KLAHN
Der Urknall für die familiäre Implosion, von der Peter Buwaldas gewaltiger Roman »Bonita Avenue« handelt, findet sich tatsächlich in den Stadtgeschichtsbüchern des niederländischen Enschede: Im Mai 2000 fliegt dort die Fabrik der Firma S. E. Fireworks in die Luft. Während die Explosion 23 Todesopfer und hunderte Verletzte fordert, zudem ein ganzes Stadtviertel vorübergehend unbewohnbar macht, lässt Buwalda den krankhaft eifersüchtigen Aaron, dessen Wohnung in der Katastrophenzone liegt, und seine fatal attraktive Gefährtin Joni anderthalb Autostunden entfernt auf dem Hochzeitsfest eines Freundes tafeln. Die Stimmung zwischen den beiden ist frostig, und im Rückblick wird sich zeigen, dass der Anfang vom Ende ihrer gemeinsamen Zeit just auf eben jenen Tag datiert werden kann, an dem ihre Gastgeber sich und ihr Treuegelöbnis feiern.
Alles strebt der Auflösung entgegen in diesem episch langen Roman, mit dem der 1971 in Brüssel geborene, im niederländischen Haarlem lebende Peter Buwalda in seiner Wahlheimat zum mehrfach ausgezeichneten Shooting-Star avanciert ist. Karrieren, psychische Konstitutionen, die Familie. Je vehementer sich diejenigen, die von diesem Prozess erfasst werden, dagegen stemmen, desto mehr arbeiten sie ihrer eigenen Tragödie zu. Das erfährt Aaron genauso wie der von ihm bewunderte Siem Sigerius, Jonis’ Stiefvater, der, so weiß der Leser recht bald, sich das Leben nehmen wird. Die Unvermeidlichkeit dieses Endes trägt geradezu antike Züge, das Schicksal in »Bonita Avenue« aber heißt Patchwork-Existenz.
Siem Sigerius fehlt es augenscheinlich an nichts. Er ist ein Mann, wie wir ihn aus Philip Roths Romanen kennen: renommiertes Mathe-Genie und respektierter Hochschulrektor, bekannte Judo-Legende und ambitionierter Jazz-Liebhaber, komfortabel verheiratet, sexuell mäßig aktiv, wobei er sich auf diesem Terrain auch nicht wirklich zuhause fühlt. Außerdem gibt es ja das Internet.
Die verdrängte Sexualität aber war immer schon der effektivste Hebel, um das bürgerliche Dasein auseinander zu nehmen. Das ist in »Bonita Avenue« nicht anders. Auf einer seiner nächtlichen Reisen durch die virtuelle Pornowelt meint Sigerius Joni zu erkennen, Perücke auf dem Kopf, nackt und breitbeinig vor der Kamera posierend. Dass er der Sache als zahlender Kunde der Website auf die Schliche gekommen ist, macht die Angelegenheit nicht einfacher. Denn seine Sorge gilt zunächst einmal dem eigenen Ruf, weniger der moralischen Integrität der Stieftochter. Schließlich steht er kurz vor der Ernennung zum Wissenschaftsminister.
Doch das zunächst ausgemalte Idyll ist ohnehin brüchig in diesem Roman, der im Titel die Erinnerung an glückliche Tage aufruft. In Berkeley entfaltete Siem Sigerius’ Stern als Mathematik-Koryphäe seine vollste Leuchtkraft. In der »Bonita Avenue« wohnte die Familie zu dieser Zeit. Den Preis für das Glück aber haben andere bezahlt. Der leibliche Sohn Wilbert aus erster Ehe etwa, den Sigerius in den 1970er Jahren als kleines Kind mit der überforderten, alkoholkranken Mutter zurückgelassen hatte – und mit ihm auch die Erinnerung an die bescheidenen Verhältnisse, denen er selbst entstammt. Wilbert entwickelte sich vom skrupellosen Kleinkriminellen zum monströsen Totschläger, was Sigerius lange erfolgreich zu verdrängen verstanden hat – bis ihn die Nachricht von Wilberts Entlassung aus dem Gefängnis erreicht. Und mit Wilbert hält das Rohe, Ungehobelte und Obszöne Einzug in Sigerius’ domestizierte Welt.
Über gut drei Jahrzehnte spannt Buwalda seine Familiengeschichte, nicht chronologisch, sondern mittels Rückblenden und Vorgriffen. Gekonnt wechselt er Perspektiven und Zeitebenen, schachtelt Erinnerungen und Gegenwart ineinander, lenkt den Erzählstrom immer wieder ab und um. Eben dadurch aber entfaltet der Roman einen gewaltigen Sog. Bis hin zum Showdown, für den Buwalda dann reichlich Genre-Register zieht. Auch wenn das am Ende ein bisschen zu viel des Bösen ist, kann man fulminanter schwer debütieren!
Peter Buwalda: »Bonita Avenue«; Rowohlt Verlag, Reinbek 2013, 640 Seiten, 24,95 Euro
Lesungen am 27. Mai 2013 im Heine Haus, Düsseldorf und am 28. Mai 2013 im Bonner Kunstverein.