INTERVIEW: ANDREJ KLAHN
Auf die Frage, ob er noch einmal einen Verlag gründen würde, erzählt Stefan Weidle den alten Verlegerwitz: Wie kommt man zu einem kleinen Vermögen? Man muss mit einem großen anfangen. Das gilt heute mehr denn je. Seit den 1990er Jahren erlebt die Verlagsbranche genauso wie der Buchhandel einen tief greifenden Konzentrationsprozess. Viele unabhängige Buchhandlungen mussten schließen, weil sie in der Konkurrenz mit den expansiven Filialisten und dem Online-Handel nicht mehr bestehen konnten. Für kleinere Verlage aber sind diese unabhängigen Buchhandlungen im Kampf um die Aufmerksamkeit der Leser unverzichtbar. In den kommenden Monaten werden wir in lockerer Folge ausgewählte unabhängige Verlage in NRW vorstellen. Am Anfang steht der Weidle Verlag in Bonn. Gegründet wurde er 1993 von Stefan Weidle, der zurzeit auch Vorstand der Kurt Wolff Stiftung zur Förderung einer vielfältigen Verlags- und Literaturszene ist.
K.WEST: Wie kam es zur Gründung des Weidle Verlags?
WEIDLE: Meine Frau arbeitete an einer Biografie Anna Mahlers, der Tochter von Gustav und Alma Mahler. Während der Recherche lernten wir 1989 in Los Angeles Albrecht Joseph, ihren letzten Ehemann, kennen. Er übergab uns das Manuskript seiner Autobiografie mit den Worten: »Machen Sie damit, was Sie möchten.« Da haben wir zum ersten Mal gespürt, wie wichtig es diesen Menschen, die aus Deutschland vertrieben worden waren, war, in ihrem Heimatland Spuren zu hinterlassen. Wir haben das Buch dann als Imprint bei einem kleinen Verlag herausgebracht. Ein Buch ergab das nächste. Doch irgendwann hatte der Pleitegeier die Verlage, bei denen wir die Titel veröffentlichten, aufgefressen, und ich musste meinen eigenen gründen.
K.WEST: Dass Sie sich zunächst auf Exilliteratur, vor allem auf die Literatur jüdischer Emigranten, spezialisiert haben, war also einem Zufall geschuldet?
WEIDLE: Ich habe mich immer schon in den 1920er Jahren literarisch am wohlsten gefühlt. Und dazu gehört nun mal das Thema »Exil«. Hinzu kam, dass ich etwas verstehen wollte: Emigranten, die ich während der Recherche kennengelernt hatte, erzählten mir, wie sich Deutschland über Nacht verändert hat nach dem 30. Januar 1933. Je mehr ich mich damit beschäftigte, je mehr ich darüber las, desto unfassbarer wurde das für mich. Heimito von Doderer hat einmal gesagt, dass der Roman die Wissenschaft vom Leben ist. Ich wollte Romane dieser Zeit herausbringen, um die plötzlichen Veränderungen zu begreifen. Bis heute sind es acht Bücher, die alle aus unterschiedlichen Blickwinkeln auf den 30. Januar schauen.
K.WEST: Mittlerweile haben Sie Bücher des Isländers Pétur Gunnarsson oder des Neuseeländers Carl Nixon genauso wie Essays des chinesischen Lyrikers Bei Dao im Programm. Gibt es eine inhaltliche Klammer?
WEIDLE: Der tiefste Grundsatz ist, nur Bücher zu verlegen, die ich selber auch kaufen würde. Wenn ich ein Buch mache, muss ich es mindestens drei Mal lesen. Ich habe keine Lust, an Texten zu arbeiten, die mir nicht gefallen.
K.WEST: Was können unabhängige Verlage tun, um gegen die großen Häuser zu bestehen?
WEIDLE: Entscheidend ist, dass sie sich in Gegenden rumtreiben, wo die großen Verlage nicht hingehen, weil sie dort kein Geschäft wittern. Die großen Häuser finanzieren immer weniger quer. Mittlerweile kalkulieren sie jedes Buch einzeln, und ein Titel, der keinen Gewinn verspricht, wird nicht mehr herausgebracht. Das ist unsere Chance. Denn dort, wo wir unterwegs sind, Neuseeland beispielsweise, da hat sich kaum einer der größeren Verlage hin getraut, selbst als das Land Thema der Buchmesse war.
K.WEST: Sind die Zeiten denn tatsächlich schwerer geworden?
WEIDLE: Definitiv. Vor zehn Jahren habe ich pro Titel, den ich herausbringe, ungefähr doppelt so viele Exemplare verkauft.
K.WEST: Wie erklären Sie sich das?
WEIDLE: Das Leseverhalten hat sich verändert. Und die Schere in der Belletristik klafft immer weiter auseinander. Bestseller verkaufen sich noch immer gut, wenn auch nicht mehr in Größenordnungen wie früher. Aber insgesamt ist die Belletristik enorm eingebrochen. Was sich in den 1990er Jahren mäßig verkauft hat, läuft heute miserabel. Das liegt sicherlich auch daran, dass sich die Aufmerksamkeit auf immer weniger Titel konzentriert.
K.WEST: In den letzten 20 Jahren hat der Buchhandel einen tief greifenden Strukturwandel erlebt. Erst haben die großen Filialisten die kleineren Läden verdrängt, jetzt müssen Thalia, Hugendubel & Co ihre großen Flächen reduzieren, weil der Internet-Buchhandel ihnen das Leben schwer macht. Welche Auswirkungen hat das auf Ihre Arbeit?
WEIDLE: Die Konzentrationsprozesse im Buchhandel bedeuten für unabhängige Verleger, dass man sich Orte suchen muss, wo man seine Bücher verkaufen kann. In den großen Kettengeschäften werden wir mit unserem Programm nicht geführt. Dann kommt man sehr rasch auf den unabhängigen Buchhandel, auf die engagierten Buchhändler, die es zum Glück gibt, die unter nicht sehr guten ökonomischen Bedingungen ihre Buchhandlungen betreiben, und die dort ein Programm pflegen, das ihnen selber gefällt.
K.WEST: Werden diese kleineren Buchhandlungen flächendeckend bestehen können?
WEIDLE: Ich glaube, dass wir den unabhängigen Buchhandel in der Tat stärken müssen. Ich finde die »buy local«-Bewegung sehr, sehr wichtig, dass man eben nicht im Internet kauft, sondern zum unabhängigen Buchhändler geht. Aber es ist notwendig, dass wir einen Anreiz schaffen für unabhängige Buchhändler, ein gutes Programm zu machen und sich für die literarische Vielfalt einzusetzen. Und dieser Anreiz soll ein Prämiensystem sein, von dem ich hoffe, dass es durchsetzbar ist.
K.WEST: Aber wir haben doch bereits die Buchpreisbindung, die die literarische Vielfalt schützen soll.
WEIDLE: Das reicht nicht, weil die Buchpreisbindung niemanden davon abhält, Bücher im Internet zu kaufen.
K.WEST: Welche Art von Buchhandlung wollen Sie fördern?
WEIDLE: Wichtig ist, dass es mir nicht um Subventionierung, sondern um eine Auszeichnung geht. Die Buchhandlung muss sich bewerben mit ihrem Sortiment. Sie muss Vertreter empfangen, was die großen Ketten nicht tun, sie sollte nach Möglichkeit ausbilden, Lesungen veranstalten und auch als sozialer Treffpunkt in der Stadt funktionieren. Wir wollen etwa 400 bis 500 Buchhandlungen mit insgesamt fünf Millionen Euro fördern. Jetzt hängt es von der Politik ab, ob unser Prämiensystem nächstes Jahr umgesetzt wird.
K.WEST: In diesem Jahr wurde auf der Leipziger Buchmesse der erste Preis für Self Publisher verliehen. Amazon lädt länger schon Autoren, die keinen Verlag finden, ein, Texte über die Internet-Plattform zu vertreiben. »Die Einzigen, die im Verlagswesen noch nötig sind, sind der Autor und der Leser«, hat ein Amazon-Manager einmal gesagt. Wie würde die deutsche Literaturlandschaft aussehen, wenn sich diese Einschätzung als richtig erweisen sollte?
WEIDLE: Wenn die Filterfunktion, die Verlage haben, wegfallen sollte, wäre das Angebot nicht mehr zu überblicken. Das hätte zur Konsequenz, dass das Buch nicht mehr als Thema bei Gesprächen fungieren würde. Wir hätten keinen gemeinsamen Horizont mehr. Ganz zu schweigen von den Auflagen, die vermutlich überwiegend bei 200 Exemplaren liegen würden. Die Branche würde sich entprofessionalisieren.
DER VERLEGER EMPFIEHLT:
»Der Band ›Wir leben nun mal auf einem Vulkan‹, herausgegeben von Peter Crane, versammelt den Briefwechsel einer jüdischen Familie, deren Mitglieder 1933 ins Exil gehen mussten – nach Amerika, England, Südafrika oder Russland. Ein so wunderbares und ergreifendes Buch, wie ich kein zweites kenne. Peter Crane ist der Sohn Sibylle Ortmanns, die am 30. Oktober 1933 15-jährig von Berlin nach London gehen musste. Über die Briefe hält die in der Welt verstreute Familie Kontakt. Wir haben sieben Jahre daran gearbeitet, mussten es von 1400 auf 700 Seiten kürzen.«
Peter Crane: »Wir leben nun mal auf einem Vulkan«, Weidle Verlag, Bonn 2005, 703 S., 35 Euro