So sehen Sieger aus! Sie haben Elan, Selbstbewusstsein, den Willen zum Erfolg, sind bereit, Entbehrungen hinzunehmen, akzeptieren hierarchische Strukturen und Drill, und das Anspruchsdenken ist noch ziemlich unausgeprägt. Mit der Geschichte von den Ameisen, die wuselnd immer mehr werden, liegt man nicht ganz falsch. Einer der übrig gebliebenen deutschen Werksangehörigen der Kokerei Kaiserstuhl in Dortmund wählt diesen Vergleich, wenn er über die Kollegen aus China spricht, die die gesamte Anlage demontieren, um sie im Reich der Mitte, dem »Center of the World«, wie einer der ihren lachend sagt, wieder aufzubauen. Für 650 Millionen Euro errichtet und nur acht Jahre am Netz, bevor der hypermoderne Betrieb im Jahr 2000 stillgelegt wurde, ist Kaiserstuhl ein Beispiel für den Niedergang der einen und den Aufschwung der anderen. Mittlerweile stieg der Kokspreis um ein Vielfaches, auch in Deutschland erhöht sich der Bedarf wieder und führt zu der Überlegung, vielleicht doch neuerlich in den Markt einzusteigen, statt demnächst aus China das schwarze Gold zu importieren, das dort womöglich in der ehemals deutschen Kokerei produziert wird.
»Losers and Winners« nennen Ulrike Franke und Michael Loeken ihre Langzeit- Dokumentation, deren Premiere im Revier auf der 30. Duisburger Filmwoche richtig aufgehoben ist. Nicht nur Elegie und Verlustrechnung, macht der Film Unterschiede im sozialen Netz und arbeitstechnischen Verhalten deutlich. Acht Stunden sind kein Tag: Die Deutschen haben die Ruhe weg, wohl auch mürbe von dem, was ihnen an Leben durch die Schließung von Kaiserstuhl genommen wurde. Die Kumpel kennen ihre Arbeitnehmerrechte und haben in sprichwörtlicher Gründlichkeit Auflagen, Maßgaben und Formulare parat. Die Chinesen nehmen’s nicht so genau. »Schneller besser sparsamer« lautet ihre Devise, da verursachen deutsche Einschränkungen bloß »immer Probleme« und stören den »zwischenmenschlichen Kontakt«, wie es beidseitig heißt. Es ist, als würde das kapitalistische System im kommunistischen China verwandelt zur Anwendung kommen: Der Druck der Produktivität, Leistungssteigerung, die amerikanische Forderung nach Effizienz (time is money) vermischen sich mit dem Appell ans Wir-Gefühl einer Solidargemeinschaft. Die Chinesen fallen historisch hinter uns zurück und sind uns doch weit voraus, wenn sie ungebrochen das Prinzip Hoffnung vertreten, dass es ihre Kinder einmal besser haben und Wohlstand und Bildung besitzen sollen. Wenn einer der Chinesen sich beim Mercedes- Händler umschaut, von den Limousinen schwärmt und anhand eines Werbeplakats seine Philosophie entwickelt, wird eines klar: China ist »Offen für Träume«. Bei uns sind die Schotten dicht.
Da hilft nur der Perspektivwechsel. Und der folgt manchmal einem inneren Zwang. Etwa bei Menschen, bei denen »man eine große Beweglichkeit der Gedanken und Leichtigkeit des Geistes und des Charakters beobachtet, die im allgemeinen nur in der frühen Kindheit auftritt und hier sogar den Veränderungen durch das Alter widersteht«. Schreibt Georges Gilles de la Tourette 1884. Mit dem nach ihm benannten Syndrom, einer neuro-psychiatrischen Störung, sind die sechs Personen behaftet, die Erwin Michelberger in seinem Film mit dem prägnant wie ein Ausrufezeichen gesetzten Titel »Doch« – ebenfalls über einen längeren Zeitraum hinweg – zu Worte kommen lässt. Das Unangepasste und Neben-der-Spur- Gehen beschäftigt den Köln-Düsseldorfer Filmemacher seit jeher. Michelbergers ideale Erzählform ist das Symposium, der Austausch – der Wunsch nach Kontakt bis zum Schrei nach Liebe. Er registriert Auf- und Ausbrüche von Menschen, die jeder für sich eine Ausnahme bilden, auf sehr sublime Weise, zu der hier auch die Musik von György Kurtag beiträgt.
Sprachlich und motorisch teils präzise, teils unkontrolliert mit ihren Tics und Muskelkontraktionen treffen wir die drei Frauen und drei Männer wie bei Manets »Picknick im Grünen«. Intelligent und emotional erklären, positionieren und reflektieren sie sich in ihrer Ambivalenz. Da ist einerseits ihre bewusste und oftmals gewitzte Virtuosität, andererseits drängt sich das Befremden hervor, sich selbst ausgeliefert und nicht Herr im eigenen Haus zu sein. Wie unter dem Brennglas verdichtet sich eine Befindlichkeit, die uns alle, wenngleich nicht in solch krasser Ausprägung, betrifft, und grundlegende Fragen formuliert: »Wo ist das Mittelmaß? Wo ist die Balance?« Mit seiner Krankheit zu leben, erläutert einer der sechs, sei »wie ein Abenteuerurlaub, den ich nicht gebucht habe«. Was für ein Satz! Noch eine Begegnung mit einem Menschen wird man so leicht nicht vergessen beim 30. Duisburger Doku-Jahrgang: die mit Thomas Harlan. Christoph Hübner lässt sich gar nicht genug danken für seine intensive Nahaufnahme, die einen faszinierenden Mann, brillan ten Logiker, kühnen Künstler und politischen Kopf vorstellt. In einem Lungen-Sanatorium im Süddeutschen lebt Harlan seit 2001 – mit Blick auf den Obersalzberg, wo er als Kind Gast an der Tafel des »Fakirs« und »Hexers« Adolf Hitler gewesen ist. Zusammen mit seinem Vater Veit Harlan, dessen antisemitischer Propagandafilm »Jud Süß« damals per SS-Dekret zur Pflichtanschauung für die Aufseher von Auschwitz erklärt wurde.
Thomas Harlan hat sich in eigenen Filmen, Stücken, Drehbüchern, Hörspielen, Romanen mit dem Dritten Reich und seinen unerledigten Folgen beschäftigt, hat mit seinen Recherchen zu NS-Verbrechern in der Bundesrepublik während der 50er und 60er Jahre eine Lawine los getreten, bis der »Fachmann des Schreckens« wegen Landesverrats verklagt wurde und nach Frankreich und Italien ging. Er hat Wundkanäle gelegt und das Messer angesetzt: scharf geschliffen wie sein Verstand und seine rhetorische Begabung. In Hübners »Wandersplitter« streut der 1929 geborene Sohn des »heiß geliebten« Vaters, den er verriet und der dann doch in seinen Armen starb, mit der Geste eines römischen Patrizier-Philosophen Fragmente einer Biografie der Zufälle, Unfälle und »produktiven Störungen« aus. Harlan erzählt Geschichten, in denen sein »Ich« keine Rolle spiele, wie er relativiert, und die doch zu ihm gehören, weil nicht jedem jede Geschichte passiert. Pointiert und nie pathetisch, legt er Zeugnis ab: »Das Nein war weg« rekapituliert er seine Jugend bis 1945 und das Einverständnis mit dem Regime. Er schildert, wie ihm die Ankunft der Roten Armee in Berlin begegnete, und sein Aufwachsen »zwischen zwei Steinen wie ein Unkraut«. Er denkt nach über das kollektive Erbe (»Es ist alles eintätowiert «) und über juristische Prinzipien (»Die einzige Strafe, die ich mir vorstellen kann, ist die Wahrheit sagen zu müssen«). Er urteilt über den Vater, der »ein Hammer gewesen ist, mit dem andere erschlagen wurden«, aber trotzdem diesen Hammer, die Filmkamera, nicht hat fallen lassen. Es gibt keine einfachen Wahrheiten oder eben doch nur dies: einfache Wahrheiten. Harlan steht dafür beispielhaft. Auch Thomas Heises »Im Glück.Neger.« montiert Wandersplitter. Sie dringen in den Körper einer Stadt, deren Oberfläche schrundig ist vom Schorf der Geschichte, und unter die Haut von Kindern auf dem Weg zum Erwachsensein. Denn Heises Anatomie einer Jugend in Berlin begleitet – ein wiederholtes Erzählprinzip der in unseren Beispielen vorzüglichen Duisburger Auswahl – während sechs Jahren, von 1999 bis 2005, Sven und die anderen. Ihre Namen blinken im Vorspann wie im Licht von Scheinwerfern auf. Kurze Erhellung im Dunkel einer vielleicht auch wieder Lost Generation. »Was ist Zeit?« fragt ein Graffito am Betonpfeiler der U-Bahn. Im Lauf der Zeit, die zu verflüssigen und zu verdunsten scheint, schält sich die Unhaltbarkeit von Wünschen, Zielen, Hoffnungen heraus. Heises Methode ist alles andere als linear; er collagiert sein Porträt aus Fragmenten, nähert sich assoziativ und essayistisch und ermittelt über Stimmungen die Substanz der Figuren. Der Bewegungsfluss der Stadt besonders in ihren müden, tristen, beklemmenden Ansichten und literarische Textbrocken aus Heiner Müllers »Anatomie Titus«, darin der Westen der Musealisierung als archäologisches Fundstück überantwortet wird, spiegeln Svens vergeblichen Versuch, Tritt zu fassen und »endlich mal meins haben« zu wollen, so dass er am Ende auch am Regisseur und dessen aufrichtigem Interesse an seiner Person zweifelt. Was gäbe es für Alternativen zur deutschen Misere? Aussteigen? Unabhängig sein vom Markt als einem »Ort der Täuschung«, wie Cesare aus Italien sagt, der längst zum Asketen, dürr und ausgemergelt wie Gandhi, geworden ist. Es war einmal, in den 60ern und 70ern, als die Blumenkinder und Gras- Hüpfer auf den Spuren Siddhartas und John Lennons gen Osten zogen und in indischen Ashrams das Heil suchten. Einige Relikte hat es dort festgehalten, die Ulrich Grossenbacher und Damaris Lüthi in »Hippie Masala« besuchen. Damals ging es den meisten um das Gefühl einer Freiheit, das sich in Musik, Sex und Drogen manifestierte. Heute ist das Leben weniger Happening, sondern ruhiger und organisierter, womöglich gar bürgerlich geworden. Die westlichen Söhne und Töchter von »Mutter Indien« erfahren den Ort der Wiedergeburt jeweils anders. Ihre Lebensentwürfe unterscheiden sich. Einige haben eine bäuerische Existenz gegründet, Familien mit indischen Frauen, leben eine bescheidene Künstler-Bohème als Maler oder bauen sich ein europäisches Haus, das zwar am Himalaja steht, aber an einem Berghang der Schweiz ebenso gut aussehen würde. Manche suchen immer noch das Entertainment einer internationalen Party-Community, die von Ibiza bis Goa zieht. Andere haben sich vollkommen versenkt ins indische Wesen, wurden Yogi und Höhlenbewohner. Eines eint sie: das easy living jenseits von Leistungsdruck. Jeden Tag Rock’n’Roll. Ein Trip für die Ewigkeit. Solange es dauert.
Am Ende eine weitere Demontage, die allerletzte, allgemeine und endgültige. Keine große Sache, bloß ein kleiner stiller Tod. Der alte Mann ist »Nicht mehr«. Sein Kopf gleicht schon der Totenmaske. Leute räumen die Zimmer aus und zerlegen Bett und Schrank. Während sich die Wohnung leert, kleiden zwei Bestatter den Leichnam ein, der wie eine steife Puppe gedreht wird und dessen Finger sich zurechtbiegen lassen zum Gebet. Es ist ein Gang und eine Bewegung: Der Schnitt verbindet in Karin Jurschicks bestürzenden Abschied vom Vater die beiden getrennten Handlungen. Was bleibt, ist nicht viel: ein Häufchen Kehricht, ein Stapel Möbel, die plötzlich draußen aussehen wie sperriges Gut, ein paar Fotografien, die in der Erinnerung noch die Hände des Lebenden anfassten und wendeten. Ein Zeitungsschnipsel liegt am Boden. Die Überschrift lautet: »Die großen Themen unserer Zeit«.
Die Filmemacherin hat das in seiner Routine, Nichtigkeit und Schäbigkeit umso berührendere Letzte Geleit gerahmt von Venedig- Motiven, von Gondeln, die sind wie Särge. Die Bildidee von Styx, Hades und einem mythischen Charon stammt aus anderen Tagen. Man gab dem Tod, was des Todes ist. Heutzutage stirbt es sich profan. //
6. bis 12. November, www.duisburger-filmwoche.de