In einem dämmrigen Salon im ersten Stock der Villa Hügel steht eine zirka 80 Zentimeter hohe Figur, golden gleißend im Licht der Ausstellungsscheinwerfer. Der aufrecht stehende Körper wirkt wie soeben aus vielfacher Bewegung erstarrt, denn zwei Hände sind wie segnend vor der Brust zusammengelegt, sechs weitere Arme aber öffnen sich seitlich oder weisen zu Boden. Wie das Dach einer Pagode türmen sich auf dem Hals elf bekrönte Köpfe, deren androgyne Gesichtszüge still nach vorn und zu den Seiten lächeln. Von den Schultern scheinen sich zwei halbkreisförmige Schwingen abzuspreizen, der genauere Blick erkennt jedoch einen gefiederartigen Strauß von geradezu unzählbar vielen weiteren Arme, in jeweils siebzehn Schichten konzentrisch übereinander gelegt, in jedem Handteller ein offenes Auge zeigend, an den Rändern im Flirren der Finger ausfransend.
Es ist der tauendarmige Avalokitesvara, »Der Herr der herabschaut«, der Bodhisattva des Mitgefühls. Seine eintausend Augen sehen jedes Geschöpf, seine eintausend Arme geben jedem Lebewesen Zuflucht und Schutz. Zahlreich sind seine Attribute und Beinamen, die jeweils besondere Verehrung und Meditation erfahren; vielfach die Sagen, die sich um ihn ranken; berühmt ist sein Mantra »Om Mani Padme Hum«. Unter unterschiedlichen Aspekten wird auch sein Wesen begriffen: als Bodhisattva, also beinah Erleuchteter, oder als vollendeter Buddha, der sich aus Barmherzigkeit im Bodhisattva Avalokitesvara manifestiert.
Tibetische Kultur ist buddhistisches Rokoko. Die ambiguen Charakteristika, die gleitenden Systematiken flirren in der Begriffswelt eines Europäers wie die tausend Arme des Avalokitesvara – rätselhaft unverständliche Bilder und Figuren, Vorstellungen und Gegenstände gibt es ausschließlich in der Ausstellung »Tibet. Klöster öffnen ihre Schatzkammern«, die die Kulturstiftung Ruhr in der Villa Hügel, ihrem Wirkungsort, aufgebaut hat. Bis zum 26. November werden in einem Dutzend eher kleinen Räumen rund 150 kultische Objekte aus der traditionellen Kultur Tibets kostbar präsentiert; das älteste Stück, ein kleiner sitzender Bronze-Buddha, stammt aus dem 5. Jahrhundert unserer Zeit, das jüngste aus dem 20.; viele der präsentierten Figuren, Rollbilder (Thangkas), Manuskripte, Schreine, Mandalas sind außerdem zum ersten Mal außerhalb tibetischer Klöster und Museen zu sehen. Der tauendarmige Avalokitesvara, aus Kupfer gegossen, feuervergoldet, mit einzeln gearbeiteten Armen, stammt aus der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert, sein Aufbewahrungsort ist der Norbulingka, der (ehemalige) Sommerpalast des Dalai Lama in Lhasa. So fremdartig wie die Figur ist das Land, aus dem sie stammt, dessen Schutzpatron der Heilige ist. Tibets extreme Topographie hat es bis weit ins 20. Jahrhundert zur Terra incognita gemacht, seine besondere, theokratische Gesellschaftsform es in eine Wolke aus Geheimnissen gehüllt. Auf einer Durchschnittshöhe von 4500 Metern zwischen den Hochgebirgen von Himalaja, Karakorum und Kunlun Shan gelegen, bis vor wenigen Jahrzehnten nur durch Pfade erreichbar, war Tibet dennoch kein Land ohne Geschichte. Bis ins 10. Jahrhundert wurde es durch Könige regiert, nach einer Zeit politischer Wirren bildeten sich drei neue Herrschaftssäulen heraus: Adel, Klöster und zuletzt der Dalai Lama – ein geistlich-politisches Oberhaupt, das nicht gewählt und dessen Amt nicht vererbt wird, sondern dessen jeweils neuer Träger nach der Reinkarnationslehre auf magische Weise unter tibetischen Kindern gefunden wird, fast immer solchen aus einfachen Verhältnissen. Das Amt bildet eine Verschmelzung von religiöser und weltlicher Macht, wie sie in der Geschichte höchstens noch der Papst darstellt. Seit dem 15. Jahrhundert gilt der Dalai Lama als die Reinkarnation eben des Bodhisattva Avalokitesvara, der damit der Stammvater und Schutzpatron Tibets ist. Bis ins 18. Jahrhundert war das Dach der Welt ein Land mit unklaren Grenzen, bei innerer Autonomie stand es unter mongolischer Schutzherrschaft. Danach gewann China immer mehr an Einfluss und erklärte Tibet zum Protektorat – Beziehungen, die die frisch gegründete Volksrepublik zum Vorwand nahm, das unterlegene Land 1950 zu annektieren. Für die Mongolenherrscher aber waren die geistlichen Führer Tibets zumeist wichtige Berater gewesen, es war deren Fürst Altan Khan, der 1578 den Abt von Drepung, dem bedeutendsten Kloster Tibets, zum »Dalai Lama« ernannte – ein mongolisches Wort, das »Meer des Wissens« oder »Lehrer des Weltmeers« bedeutet. (Die Tibeter selbst nennen ihr Oberhaupt Yishi Norbu.) Gleichzeitig erhielten die beiden Vorgänger des Abts den Titel posthum, sodass mit dem ersten wirklichen Träger bereits eine Ahnenreihe bestand; eine die bis heute überdauert hat. Der gegenwärtige, der 14. Dalai Lama, wurde am 6. Juli 1935 geboren und drei Jahre später als neue Inkarnation entdeckt.
Die buddhistische Lehre stammt aus dem 6. vorchristlichen Jahrhundert; ihr Begründer war der nordindische Prinz Siddharta Gautama. Er entsagte der Welt und erreichte nicht durch Asketentum, sondern durch meditative Versenkung 528 unter einem Feigenbaum die Erleuchtung, also den Eingang ins Nirwana, in die Vernichtung von Wahrnehmung und Empfindung. (Nicht ganz unähnlich frühchristlicher Auseinandersetzungen entzündeten sich in den folgenden Jahrhunderten Streitigkeiten über das Wesen des Buddha: Gott, Mensch oder etwas drittes?) Die Lehre des historischen Buddha (Buddha Shakyamuni), der Dharma, besitzt als Kern die »vier edlen Wahrheiten«: dass Leben Leiden bedeutet; Leiden aus Leidenschaft oder Unwissenheit resultiert; der Mensch sich selbst von dem Leid befreien kann; und der Weg zur Befreiung vom Leid in der Lehre aufgezeichnet ist. Es war ein später Jünger Buddhas, der indische Gelehrte Padmasambhava, der in der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts den Buddhismus nach Tibet brachte. Damals war diese ursprünglich atheistische Religion bereits in verschiedene Richtungen zerfallen, vor allem in das Hinayana, das »Kleine Fahrzeug«, das asketischen Anhängern den individuellen Weg zur Erleuchtung wies. Sowie in das Mahayana, das »Große Fahrzeug«, das die Erleuchtung für alle Lebewesen will; in ihm spielen Bodhisattvas eine große Rolle, Wesen, die kurz vor der Erleuchtung stehen, aber freiwillig darauf verzichten, ins Nirwana einzugehen, um den übrigen Menschen auf dem Weg dorthin zu helfen. Padmasambhava hing einem besonderen Zweig des Mahayana an, dem Vajrayana (»Diamantfahrzeug«), einem tantrischen Buddhismus. Er war um 500 n. Chr. entstanden und stark vom hinduistischen Shivakult beeinflusst – ikonografisch findet sich dies u.a. in solchen Figuren wie dem tausendarmigen, elfköpfigen Avalokitesvara wieder, der Hindu-Götter wie Shiva, Visnu oder Indra zum Vorbild hat. Das Vajrayana, das allerhand magische Rituale und mystische Kulte zuließ und sich daher mit der in Tibet vorherrschenden (ursprünglich animistischen) Bön-Religion besser vertrug als die »reine« buddhistische Lehre, wurde 779 zur Staatsreligion Tibets, neun Jahre zuvor war der Bau des ersten buddhistischen Klosters begonnen worden. In der Welt völlig einzigartig sind Macht und Bedeutung, die die Klöster im Laufe der folgenden Jahrhunderte in Tibet annehmen sollten; zu dem Zeitpunkt, als die Chinesen diese Kultur weitgehend vernichteten, waren bis zu 20 Prozent der Bevölkerung ordiniert. In Drepung, dem größten Kloster, 1418 gegründet, lebten 1950 etwa 13.000 Mönche.
Der buddhistisch-tibetische Ordensgedanke ist dem christlichen verwandt: Rückzug aus der Welt, Gelübde, Askese oder Arbeit, Priestertum, also spirituelle Hilfe für die Gläubigen. So gab es in Drepung wie in den meisten anderen der vor der Annexion über 3000 Klöster Tibets Gelehrte und Asketen, aber auch Handel und Politik treibende sowie waffenkundige Mönche. Im Unterschied zu christlichen Orden aber besaß jede tibetische Abtei, ja jede »freie« monastische Kleingemeinschaft ihre eigene Liturgie. Dass die Massenklöster neben ihrem, historisch begründeten, politischen Einfluss riesige Wirtschaftsunternehmen darstellten, versteht sich. Adel und Klöster hatten nahezu die gesamte agrarische Nutzfläche unter sich aufgeteilt und erhoben Abgaben; die gewaltige Abhängigkeit des ganzen Landes von der Religion verhinderte jede soziale Entwicklung.
Leider macht der Katalog der Essener Ausstellung, der ansonsten durch Qualität und Umfang den Charakter eines tibetologischen Standardwerks für sich beanspruchen darf, in der Beschreibung der tibetischen Kulturgeschichte im Jahre 1950 Halt wie vor der Chinesischen Mauer. Auf Nachfragen erklärt die Kuratorin der Ausstellung, Jeong-hee Lee-Kalisch, Professorin am Kunsthistorischen Institut der FU Berlin, es sei die Auflage der »tibetischen Kulturbehörden« gewesen, die Schau nicht zum Politikum werden zu lassen. Nur sind leider die tibetischen mit den chinesischen Behörden gleichzusetzen, die ihr staatsterroristisches Wirken in Tibet nicht gern erwähnt sehen. Dennoch: Politischen Druck, gar bei der Auswahl der Objekte, habe es nicht gegeben, beteuert Frau Lee. Es gab wohl nur dies: Selbstzensur. Denn zum wissenschaftlichen Selbstverständnis gehört nicht nur mitzuteilen, dass, sondern auch warum die Zahl der Mönche von Drepung heute nur noch 700 beträgt. Wahrscheinlich hat nur etwa ein Prozent der tibetischen Klöster die chinesische Zwangsherrschaft heil überstanden; ein Kapitel über den Stand tibetisch-buddhistischer Kultur und den Zustand ihrer Heiligtümer aber fehlt im Katalog. Die synoptische Zeittafel endet 1940!
Vier Jahre dauerte die Vorbereitung der Ausstellung, mehrere Recherchereisen aufs Dach der Welt waren erforderlich; das Resultat ist eine faszinierende, aber auch schwierige Schau, da sie sich ganz auf Kultobjekte beschränkt, deren Bedeutung sich dem Unkundigen, also dem Normalbesucher, nur im Studium des Katalogs erschließt. Der jedoch verliert sich in seiner Gründlichkeit allzu sehr im Spezifischen; 660 Seiten im Folioformat lesen sich auch nicht so schnell.
So bleibt dem Besucher die Anschauung, man könnte auch sagen das Angeschautwerden durch Buddha- und Bodhisattvastatuen von kulturübergreifend großer Schönheit, Ruhe, mahnender Kraft. Das Sicherfreuen an der fremd-vertrauten Form von Schreibtäfelchen, Fußschalen, Ritualdolchen (Kilas) und zeremoniellen Musikinstrumenten wie einem gut drei Meter messenden »Alphorn « oder einer Meeres(!)-Schnecken-Trompete. Oder das Sichversenken in die suggestive Zentripetalkraft der Mandalas. Gegliedert ist die Schau in fünf thematische Abteilungen (Lehrer, Herrscher, Buddha, Mandalas, Medizin); die meisten der gezeigten Objekte stammen aus den Dalai Lama-Palästen Potala und Norbulingka sowie aus dem Tibet-Museum in Lhasa – fast alle dokumentieren nicht die Abgeschlossenheit des Hochlandes, sondern seinen reichen kulturellen Austausch mit Nepal, Indien, Kaschmir, China, Korea.
Jahrhundertelang war der Weg nach Tibet mühevoll; quälend oft dreht sich das Rad der Wiedergeburten. Seit die Chinesen jüngst eine Eisenbahn aufs Dach der Welt gebaut haben, ist Tibet im Sitzen zu erreichen; seit der Mönch Virupa im 9. Jahrhundert durch mystische Offenbarung das Lamdre-System entwickelte, können zumindest Tibeter das Nirwana in einem einzigen Leben erlangen. Die praktische Lehre (Lamdre heißt »Weg und Ergebnis«) gehört zur Sakya-Schule, einer der vier großen Zweige des tibetischen Buddhismus, sie ist ein esoterisches Meditationssystem, das auf einer engen Beziehung zwischen Schüler und Lehrer basiert. Die Verehrung für die Lamdre-Meister war daher groß, im frühen 16. Jahrhundert führte sie zur Herstellung von 21 lebensgroßen, aus Kupfer getriebenen, vergoldeten und bemalten Skulpturen, die auf kunstvolle Weise ebendiese Meister zeigen. Zehn von ihnen hat das Kloster Mindröl Ling in Zentraltibet an die Essener Schau ausgeliehen, dort sitzen sie im Lotussitz im ersten Raum und – wirken.
Wirken entrückt, gutmütig, zugänglich, kühn, kämpferisch, verzückt oder entrückt; denn jede Figur ist höchst eigen gefertigt. Den Vergleich mit zur gleichen Zeit etwa in Italien entstandener Plastik könnten sie in punkto Individualisierung und Lebendigkeit nicht bestehen; doch ist ihr Zweck ein ritueller, sie wollen nicht Individuen, sondern unterschiedliche Typen des Weges zum Heil verkörpern. In ihrem Innern verbergen sich geweihte Objekte, nach ihrer Rückkehr ins Kloster werden sie ihre alte kultische Rolle wieder übernehmen. Wahrscheinlich jedenfalls. Einer der zehn derzeit Essener Lamdre-Meister ist Virupa (»Der Ungestalte«), ein Erleuchteter mit dickem Bauch. Er liebte das Fressen und Saufen und schmiss kurz vor der Erleuchtung seine Gebetskette ins Klo. Mag also sein, dass die andern Meister nach ein paar Monaten im hedonistischen Westen ähnlich reagieren. //
Bis 26. Nov.; danach Staatl. Museen Berlin; Tel.: 0201/6162-0; www.villahuegel.de; Katalog 660 S., 30 Euro.