TEXT: ANDREJ KLAHN
Wenn Nazi-Enkel von ihren Großvätern erzählen, ist das immer so eine Sache. Denn das Familiengedächtnis produziert Erinnerungen, die mit dem, was in Geschichtsbüchern steht, nicht zwingend in Einklang stehen. Mitläufer werden im Familiengespräch zu Widerstandskämpfern umgedeutet, Täter zu Opfern. Der 1972 geborene Per Leo, der mit »Flut und Boden« den Roman nicht einer, sondern seiner Familie geschrieben hat, ist der Enkel eines überzeugten Nationalsozialisten. Sein Opa Friedrich Leo war nicht irgendein kleiner Parteisoldat, sondern einflussreicher Abteilungsleiter im Rasse- und Siedlungshauptamt der SS, betraut mit der Menschenauslese für die nordische Zuchtgemeinschaft.
Per Leo ist aber nicht nur Enkel, sondern auch Historiker, der Familienzeugnisse als Quellen zu analysieren versteht. In seiner im letzten Jahr erschienenen Doktorarbeit »Der Wille zum Wesen« hat er nach den geistes- und mentalitätsgeschichtlichen Wurzeln des Rassismus gegraben. Dabei ist er auf die intellektuell Anfang des 20. Jahrhunderts einflussreiche Disziplin der Charakterkunde gestoßen ist, um in ihr eine Handreichung zu erkennen, mit der Teile der deutschen Bildungsschicht auf die Seite des Nationalsozialismus gezogen werden konnten.
Sowohl in Per Leos Dissertation wie im Roman findet sich eine Szene, ohne die die beiden Bücher wohl nicht geschrieben worden wären. Es ist jener Moment, in dem Leo Mitte der 1990er Jahre in der Familien-Villa im Bremer Stadtteil Vegesack den Vorhang vor dem Regal, der »noch niemals freigegebenen Bühne«, beiseite schiebt, in dem der Nachlass des zwei Jahre zuvor verstorbenen Großvaters den Blicken entzogen aufbewahrt wurde. Darin findet sich neben einem dicken Leitz-Ordner voller Dokumente, neben ideologischem Schund, neben Hölderlin und Goethe auch Ludwig Klages’ »Handschrift und Charakter«. Damals hat Leo den Entschluss gefasst, die geistesgeschichtlichen Verwandtschaftsverhältnisse hinter dem ungeordneten Bücherstapel aus antisemitischer Theorie, Klassik, Romantik und Grafologie zu suchen. Denn er wollte verstehen, wie aus der Familie Leo, »seit bald vier Jahrhunderten Lutheraner mit Bildungstiteln«, ein überzeugter »Weltanschauungsdozent der Waffen-SS« hat hervorgehen können.
Angelegt ist »Flut und Boden« als Doppelporträt: Neben Friedrich Leo interessiert sich Per Leo auch für dessen Bruder Martin. Während der 1908 geborene Friedrich als Liebling des Vaters heranwächst, als naturverbundenes Kind mit Schneid, das später die Schule abbrechen und dennoch Karriere machen wird, ist Martin, den der Vater ein »Weichei« schimpft, dessen Gegenentwurf: ein empfänglicher, zarter, in sich gekehrter Junge. Der Turm des Familienhauses wird Martin zur Beobachtungsstation, von wo aus er lesend und forschend die Welt und das All erkundet.
Im kurzen Aufriss klingt die Gegenüberstellung der ungleichen Brüder klirrend schematisch. Doch Per Leo interessiert sich weniger für das, was die beiden Brüder trennt, als für das, was sie miteinander verbindet. So beschäftigen sich beide eben auch mit der Ausdruckstheorie. Friedrich dient die Grafologie als Instrument, um pseudowissenschaftlich den Zusammenhang von Rasse, Eigenart, Charakter, Ausdruck und Handschrift zu ergründen. Martin hingegen steht für ihre feinsinnige, goetheanische Seite, wenn er in der Naturanschauung die Ordnung hinter dem mannigfaltigen Ausdruck sucht.
Auch die spirituelle Entwicklung der Brüder, die auf den ersten Blick unterschiedlicher kaum sein könnte, führt Leo auf einen gemeinsamen Punkt zurück, nämlich auf die Frage, was es Anfang des 20. Jahrhunderts bedeutet, in einem protestantischen Pfarrhaus aufzuwachsen; in einer Zeit, in der Glaubenssätze an Verbindlichkeit verlieren. Immer wieder rückt Leo Martin und Friedrich zusammen, um dann die Abzweigungen kenntlich zu machen, von denen aus das Leben der Brüder einen historisch geradezu exemplarisch unterschiedlichen Verlauf nimmt.
Per Leo stützt sich in »Flut und Boden« nicht nur auf die im Nachlass gefundenen Dokumente seines Großvaters. Auch der Großonkel hat Erinnerungen hinterlassen, hinzu kommen weltanschauliche Schriften, Interviews und natürlich all das, was ein Enkel und Großneffe über seine Verwandten eben weiß. Leo hat daraus einen essayistisch weit ausgreifenden, stilistisch wirklich alle Register ziehenden Roman gefertigt, in dem er die intellektuelle Physiognomie einer Epoche aus der eigenen Familiengeschichte herausliest. Das ist, vorsichtig formuliert, ein Wagnis, zumal es sich um ein Debüt handelt. Aber überzeugender, eleganter und klüger hätte diese deutsche Geschichte kaum zu Papier gebracht werden können.
Per Leo: »Flut und Boden. Roman einer Familie«; Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2014, 350 Seiten, 21,95 Euro
Lesung am 18. März 2014 im Funkhaus Wallrafplatz des WDR, Köln. www.lit-cologne