// Der Reiz der Verantwortungslosigkeit stimuliert diese Geschichten. Der Schicksal spielende Autor überlässt sich bei aller ausgewiesenen auktorialen Hoheit dem Experiment – ebenso wie seine Figuren. Aus Lust und Überdruss, aus Angst oder Neugierde wählen diese ein anderes Leben als das eigene, verlieren und verwandeln sich, werden verwechselt und werden zu Material, wollen aus ihrer Haut heraus, probieren Rollen wie Kleider und nehmen es mit dem Ich-Sagen schwer wie einst Max Frischs »Stiller«.
Der Schriftsteller ist erste Instanz dieser Episoden aus dem beschädigten Leben, die sich zum Künstlerroman reihen, den Daniel Kehlmann schon mehrfach und zuletzt mit dem Bestseller »Die Vermessung der Welt« über die Naturwissenschaftler Gauß und Humboldt verfasst hat. Wir können ihm bei der Arbeit ›zu-lesen‹. Aber wird der Dichter das letzte Wort behalten? Gleichgültig, ob er sich als Diener seiner Prosa oder als Geist der Erzählung versteht, ob er Sätze formuliert zur Befestigung und Begnadigung der eigenen »halbwahren Existenz« oder das unentwirrbare Muster von Freiheit und Zwang der einmal entfesselten Phantasie fort spinnt. Ob er sich als Allbeherrscher fühlen darf, der sich den Bitten einer unheilbar krebskranken Frau (»Rosalie geht sterben«) beugt und sie im letzten Moment aus ihrem alten Körper erlöst, nachdem sie sich in Zürich den Freitod verabreichen lassen wollte. Oder ob er sich literarisierte lächerliche Doubles erschafft und mit ihnen (und mit sich) ironisch umspringt.
Einer der fiktiven Doppelgänger, hypochon-drisch und neurotisch, räsoniert bei einer Lesereise, ob er statt für die Ferne nicht doch eher für die eigenen vier Wände geschaffen ist. Er sagt die nächsten Termine ab, weshalb jemand anderer (in Geschichte Nr. 5) an seiner Statt verloren geht, und erlebt dann doch noch den Nervenkitzel des Faktischen. Ein weiterer »Kollege«, der Maß und Sinn stiftende Lebenshilfe-Ratgeber schreibt, hantiert am Schreibtisch mit dem Revolver, spekuliert mit dem Suizid und den Proklamationen einer Ordnung und Gott entbehrenden Welt als Antithese zu seinen billigen Trost spendenden Bestsellern.
»Fragil, kompliziert und rätselhaft«: So nennt Kehlmann in der ersten seiner »Ruhm«-losen Kurzgeschichten die »kleinen denkenden Scheibchen«. Gemeint sind Computer-Module – oder nicht doch eher der Mensch und seine Störanfälligkeit bei der Kontaktnahme mit der Welt, sei es im nahe liegenden Alltag, draußen vor der Tür in Afrika, Mittelamerika und Asien oder an der Schwelle vom Leben zum Tode? Vernetzt, virtualisiert, verurteilt zur Kontinente und Katastrophen überspringenden Mobilität, ausgesetzt allgemeiner Indolenz, technischen Irrtümern, Programmierungsfehlern und den hirnlosen Defekten des elektronischen Zeitalters – wie soll man da autonom, einzigartig, original sein? Eine Fehlschaltung, der falsche Eintrag auf einer Liste, eine Umleitung, eine minimale Wendung, und schon gerät Identität und was sie im Innersten zusammen hält aus dem Gefüge.
Mit sanftem Mutwillen, scharfsinnig und leichtfüßig, kalkuliert, geschliffen und höchstens eine Spur zu artistisch komponiert Kehlmann die in sich selbstständigen Storys zum »Roman in neun Geschichten«, indem er ihnen filigrane Beziehungsmuster unterschiebt und Namen, Konstellationen, Situationen korrespondieren lässt. Wie da Spiegelreflexe funkeln, Bezüge und Motive sich prismatisch brechen, Perspektiven virtuos wechseln, zeigt einen – in Form und Sprache – Meister von 34 Jahren, der sein Material kalt hält, sich souverän in Spuren der Tradition bewegt und dabei seiner eigenen Gangart gemäß traumwandelt.
Zum Beispiel der Filmstar Ralf Tanner. Ein umschwärmtes Idol, ein Schaubild. Einer, der nicht ist wie alle, aber genau das will: verschwinden im Unauffälligen, die quecksilbrige Oberfläche der Spiegel durchdringen. Im Erststück »Stimmen« zunächst nur der mutmaßliche Inhaber einer Mobiltelefonnummer, die fälschlich auch einem Neuanschluss zugewiesen wurde und den Zweitteilnehmer Ebling kurzfristig zu einem minder trivialen Dasein verhilft, gleitet Tanner danach nur kurz als Gesicht auf einem Kinoplakat vorüber, um in der zentralen vierten Geschichte (»Der Ausweg«) zum Helden der Schwäche zu werden. Tanner, der Schauspieler, hebt die Differenz von Original und Fälschung auf. Tanner fühlt, nicht der Richtige für sich zu sein. Er kann nur in der Imitation die Ähnlichkeit mit sich herstellen, während ein anderer die Rolle Tanner glaubhafter ausfüllt. Er schaut sich zu. Je fremder er sich wird, desto näher kommt er sich. Grundprinzip dieser Versuchanordnungen und Metaphysik en miniature.
Mit Tanner, Leo Richter, Maria Rubinstein, Miguel Auristos Blancos und den anderen führt Daniel Kehlmann die Wirklichkeit in den Zauberkreis der Möglichkeiten, komplimentiert sie wieder hinaus und lässt uns in ihren labyrinthischen Systemen erkennen, was doch nicht zu ändern ist. //
Daniel Kehlmann, Ruhm. Rowohlt, Reinbek 2009, 204 S., 18,90 Euro