Dieser Mund ist immer auch – Schrei und als solcher »Verwilderung der Stimme« (Michel Leiris). Dieses Auge ist immer auch – Blick der Medusa, in dessen Sehkreis sich verspätet der Geist des Expressionismus, der »Dämonischen Leinwand« und des »Caligarisme« fokussiert. Als fernes Echo füllen Geräusche – Antonin Artauds »Sprache der Qual« (Heiner Müller) und seine durchdringende Stimme – den Ausstellungsraum im museum.kunst.palast. Aber Ausstellung will diese Präsentation nicht sein: »Montrage« (zusammensetzt aus Montage und Monstration) nennt Jean-Jacques Lebel sein Konzept, das – halluzinatorisch, schwebend, labyrinthisch – korrespondiert mit Artauds radikalem Anderssein und proteus-haften Wesen. Beim Gang durch die dem Thema »Ein inszeniertes Leben« ideal angepasste Architektur meint man zu spüren, dass es keine Stelle gibt, die dich nicht sieht. Artauds Theorie und Praxis hat viele gezwungen, wenn nicht ihr Leben, so doch ihre Haltung zur Kunst zu ändern.
26 Bände umfasst sein Werk, bestehend aus Prosa und Lyrik, dem Roman »Heliogabal«, Stücken, Drehbüchern, Aufrufen, Pamphleten; allein die »Cahiers«, seine Tagebücher aus der psychiatrischen Gefangenschaft mit Zeichnungen, Briefen, Lautgedichten machen sieben Bücher aus.
Artaud (1896 bis 1948), das ist der große Irrtum, ist das zum Schlagwort verkommene »Theater der Grausamkeit«, auf dass sich neben vielen anderen Godard und Rivette, Fassbinder und Müller beriefen. Diese Privatmythologie setzte sich zusammen aus Artauds Ablehnung der abendländischen Kultur und des Ethnozentrismus, zuletzt durch eine Reise nach Mexiko bestätigt. Sein neues Evangelium des Theaters, das er in scheiternden Unternehmungen wie dem »Théâtre Alfred Jarry« und dem Drama »Die Cenci« verkündete, meint aktive Teilnahme, meint entfesseltes Leben, ist antisozial, antipsychologisch, absolut, elitär. Weg vom Logos und der Idee des intakten Ichs, hin zur Sprache als Erregungszustand, hin zum Physischen und Metaphysischen. Er wollte die Einheit von Erlebnis und Ausdruck ins Theater zurückbringen. Theater als reinigendes Erlebnis, dessen Elemente Sinnlichkeit, Schock, Trance und Revolte heißen. Eine spirituelle schwarze Messe aus Mystik, Totemismus und Animistischem, aus Surrealismus, Kubismus und Esoterik. Aus der Sprengkraft der Worte wollte er Taten folgen lassen. Authentizität und Anarchie gehören für ihn zusammen. Vielleicht kam er zu früh – im Mai `68 wäre seine Stunde da gewesen, auf den Straßen in Paris.
Taumel. Tanz. Freier Fall. Das Werfen ins Leere, ins Nichts. Ein Mann stürzt in die Tiefe, sein Leib zerschellt am Meer. »Ich selbst bin der bodenlose Abgrund.« Dies ist das erste Film-Bild (entnommen »Surcouf, roi des Corsaires« von Luitz-Morat, 1924) des Schauspielers Artaud, das einem begegnet, wenn man die Ausstellung aus der Vogelperspektive einsieht, von einer Empore herab schaut auf den Parcours mit seinen versetzten Projektionswänden, über die Filmausschnitte laufen, kantigen Kuben, einer abgeschliffenen Zelt-Pyramide, kreisförmigen Segmenten für Vitrinen mit Briefen, Fotos, Dokumenten und einem zu irritierender Unschärfe gebrachten Spiegelkabinett.
Drogensüchtig, provokativ, ungebärdig, sah dieser Außenseiter sich rückblickend als »ewig Behexter«. Saint Artaud, »Artaud le Mômo« – der heilige Narr. Der Skandal Artaud. Bereits in seinem Van-Gogh-Essay hatte er darauf hingewiesen, dass der Bourgeois, der sich am Werk des genialen Künstlers labt, diesen am liebsten wegsperrte und so zum »Selbstmörder durch die Gesellschaft« machte. Der Sozialkörper reagiert auf den Fremdkörper feindselig und aggressiv. Das wird auch Artaud brutal erfahren.
Als ein Feuer, aus dem man einen Scheiterhaufen gemacht hat, beschrieb er sich 1937. Da war er aus Irland ausgewiesen und nach Frankreich deportiert worden. Und es begann eine neunjährige Leidensreise durch eine Reihe psychiatrischer Anstalten, Häuser, in denen vor ihm Camille Claudel und nach ihm Unica Zürns einsaßen und in dessen einem, Sainte-Anne, ein Assistenzarzt namens Jacques Lacan arbeitete und über Artaud feststellte, der werde wohl keine Zeile mehr schreiben. Der Doktor irrte.
Zwangseinweisung wegen der Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit. Diagnose: Schizophrenie, Paranoia. Die Nummer 262602 sieht sich selbst als Fanatiker, nicht als Verrückten. Er wird geplagt und erleuchtet von Heimsuchungen, Halluzinationen, Enthüllungen; deliriert und phantasiert irres Zeug, etwa, dass Hitler ihn befreien werde; verhält sich destruktiv, nicht zuletzt gegen sich selbst – Umkehr seiner Einsicht, dass wir nicht Herr unserer Körper seien.
Im Nachbau einer Klinikzelle mit Spucknapf, abgestoßenem Email-Krankenbett, Gurten zum Festschnallen und Elektroden für die Stromstöße wird der Besucher in Düsseldorf kon-frontiert mit dieser Lebenshölle. Ab 1943 unterzogen die Ärzte den Patienten einer Elektroschock-Therapie mit 51 Behandlungen, woran »seine Seele untergeht«. In herzzerreißendem Flehen bittet er um die Beendigung der Martern, immer wieder: vergebens.
Nach seiner Freilassung soll Artaud noch 22 Monate leben, eine sehr produktive Phase, bis er im Alter von 51 Jahren stirbt. Der Artaud der 40er Jahre mit dem Ecce homo der ausgezehrten Physiognomie und dem eingefallenen Mund ist nur noch ein Schatten seiner selbst – des hochfahrenden, ambivalent schillernden Rebellen, wie ihn auch Kinoszenen zeigen. Er war unter anderem in Fritz Langs »Liliom«, in Pabsts »Dreigroschenoper« und bei L’Herbier besetzt, hat einen bezwingenden Savonarola gespielt, der wie eine Dostojewski-Gestalt in Abel Gances »Lucrecia Borgia« agiert, den Märtyrer Marat (ebenfalls bei Gance in dessen monumentalem »Napoléon«) und vor allem den Priester in Dreyers »Passion der Jeanne D’Arc«, der das Mädchen Johanna zum Scheiterhaufen begleitet und selbst der überirdischen Gnade und Milde teilhaftig zu sein scheint, die die wunderbare Marie Falconetti ausstrahlt.
Allein, schon in diesen Aufnahmen erscheint uns Artauds Kopf wie ein Déja-Vu des übertünchten Greises, der lebenden Totenmaske. Louis Aragón nannte ihn einen zugleich »verwüsteten und strahlenden Mann«. Neben den zahlreichen malerischen Selbstporträts – darunter der »Blaue Kopf«, der auch ein Plakat zu Hollywoods »Scream«-Horror darstellen könnte, und einigen Zeichnungen, die wie von Paul Klee oder konstruktivistischer Herkunft sein könnten – ist auch eine Studie von Balthus, die sich 1934 Artaud als Heathcliff für eine »Wuthering Heights«-Adaption imaginiert, und ein Porträt Dubuffets von 1946, in dem das zermalmte Antlitz sich manifestiert. Eine Christus-Figur – vorgegeben schon durch den zweiten Vornamen Antonin Artauds. Der lautete: Marie Joseph.
Bis 16.10.2005, Katalog 24,80 Euro; Tel: 0211 / 8924242, www.museum-kunst-palast