Über seinen »Sitzenden Akt« von 1909 sagte Henri Matisse: »Ich wollte keine Frau malen. Ich wollte meinen tiefsten Ausdruck vom Süden wiedergeben.« Darin liegt schon die moderne entschiedene Absage an die Bedeutung des Bildinhalts, das Sujet wird sekundär.
Denn ein Bild muss, wie Matisse erklärte, »seine vollständige Bedeutung in sich tragen, noch ehe der Betrachter den Inhalt erkennt.
Wenn ich die Fresken von Giotto sehe, kümmere ich mich nicht darum, welche biblische Szene ich vor Augen habe, aber ich erfasse sofort die Stimmung, die davon ausgeht, denn sie liegt in den Linien, in der Komposition, in der Farbe.« Und nun das: Über drei Etagen beschreitet der Besucher der Kunstsammlung NRW jetzt nicht nur den Weg in die Moderne als Aufstieg ins Licht des leuchtenden Farb- und Form-Wunders Matisse. Nein, er sieht sich mit dem Wunder konfrontiert über eine eigentlich inhaltliche Thematik. Die nahezu 200 Exponate umfassende Werkauswahl der großen Matisse-Schau »Figur Farbe Raum« konzentriert sich auf das – nach Auffassung von Kuratorin Pia Müller-Tamm – wichtigste Sujet des Künstlers: »die weibliche Figur im Interieur«.
Wir sehen Frauen auf Fauteuils, Betten, Chaiselongues ruhen, dekorativ auf Rocaille-Sesseln posieren, auf den Balkons von Nizza oder zwischen exotisch gemusterten Wandbehängen, Zimmerpflanzen, Spiegeln, Bildern. Tagträumende, träge, schlafende Frauen, über Bücher geneigt, in müßiger Betrachtung vor einem Goldfischglas, mit Gitarre, Tamburin, am Klavier. Modelle im Atelier, immer wieder als Akt, diesem Fetisch, oder als Odalisken in orientalische Gewänder gehüllt und auf Diwane drapiert, sowie als Skulpturen, die der Künstler stets auch in den ausbalancierten Stillleben-Arrangements seiner Malerei zitiert.
Gleichwohl soll dieser Themenkreis nicht Matisse als großen Dekorativen präsentieren, nicht als hedonistisch-leichtgewichtigen Maler erlesen-unbeschwerter bourgeoiser Luxuswelten. Die Ausstellung fordert den Betrachter vielmehr zur formalen Analyse auf.
Anhand unzähliger, chronologisch geordneter Werkbeispiele aus allen Schaffensphasen zum Thema »Interieur und Weiblichkeit«, das laut Müller-Tamm zwei Drittel von Matisses Werk ausmache, sollen dessen facettenreiche Konstruktionen, Verschränkungen, Verschmelzungen von Figur und Raum vorgeführt werden. Der Variantenreichtum stilistischer Strategien, die Matisse anhand dieser Kombination ein Leben lang neu entwickelte.
Angefangen bei seinen frühesten Interieurs – noch in der Tradition niederländischer und französischer Genremalerei, wie seine »Bretonische Serviererin« von 1896 – über den ornamental vibrierenden Odalisken-Harem der Nizza-Periode der 20er Jahre bis zum monumental-monochromen Scherenschnitt »Blauer Akt II«, den Matisse 1952, zwei Jahre vor seinem Tod, fertigte. Und der zusammen mit der Negativ-Variante »Venus« aus dem gleichen Jahr, deren Torso aus Leere besteht, hervorgebracht nur durch die Ausschnitt- Ränder des Papiers, am Ende der Schau steht.
Und dort so wirkt wie ein letzter großer befreiender Triumph über alle vorausgegangenen künstlerischen Problemlösungen. All diese grandiosen Erfindungen mehrdeutiger Verschränkungen von Zwei- und Dreidimensionalität, von Volumen und Fläche, von Farbe und Form.
Welche die Ausstellung am Grabbe-Platz nicht zuletzt an zahlreichen seltenen Leihgaben auch aus Privatbesitz dokumentieren kann. Wie etwa »Interieur à Collioure, la sieste« von 1905/6, mit einer grünen Frauenfigur im »Rahmen« eines Bettes und einer roten im »Rahmen« eines Balkonfensters.
Nicht um das sinnlich-mediterrane Licht, um fauvistische Leuchtkraft und Farbfeuer, geht es den Machern hier. Erläutert werden über Texttafeln, Audio-Guide und Katalog die komplexen figuralen und Farb-Flächen- Korrespondenzen. Diese nehmen dem Blick das Zentrum und lassen ihn stetig hin- und herschweifen. Was zukunftsweisend ist für die späteren, Matisse-typischen Kompositionen der Dezentralisierung, des dekorativistisch ausbalancierten Gleichwertigen und des Zentrifugalen (wie etwa bei einem der prominentesten Schaustücke, dem Atelier-Interieurausschnitt »Kapuzinerkresse mit ›Der Tanz‹«). Kompositionsstrategien, die uns zwingen, nicht die Einzeldinge wahrzunehmen, sondern eine Einheit: das Ganze eines »kondensierten Gefühls«, wie Matisse selbst formulierte. In Düsseldorf interpretiert als früher Triumph auf dem Weg der Loslösung von Figur und Raum ins Flächige, ins unbestimmt Schwebende.
Ansonsten aber mag sich nach Durchsicht der immerhin 22 Räume das Gefühl einer triumphalen Schau nicht einstellen. Dabei ist sie fraglos ein spektakuläres Ausnahme-Ereignis, eine Großtat, insofern die deutschen Museen nur einige wenige Matisse-Werke besitzen. Und hier nun erstmals seit über 20 Jahren in Deutschland wieder ein umfassender Überblick über die Arbeiten des französischen Meisters zu sehen ist. Mit ihren fast 200 Werken von 1889 bis 1952 – rund 90 Gemälden, einigen wenigen Papierschnitten sowie 100 Zeichnungen und Skulpturen – ist es laut Ko-Kurator Peter Kropmanns sogar die größte und bedeutendste Matisse-Ausstellungen in Europa seit der Pariser Retrospektive von 1970. Die Leihgaben, in mehrjähriger Vorbereitungszeit zusammengetragen, kommen aus 70 Museen in Europa und den USA, vom Metropolitan Museum bis zur Eremitage sowie von Privatsammlern aus der ganzen Welt.
Woher stammt dann der Nachgeschmack des Überraschungslosen, des Altbackenen, den der Besuch hinterlässt? Es liegt an dem kuratorischen, dem thematischen Konzept.
Anfangs verdichtet sich zwar noch einmal die Einsicht in das Ambivalenz-Phänomen Matisse. Dass der bürgerlichste Maler Frankreichs mit traditionellsten Sujets zum genialen Mitbegründer einer künstlerischen Revolution wurde. Dass er an schlichtesten, letztlich nichtssagenden Bild-Situationen eine gewagte, kühne stilistische Rhetorik entwickelte.
Aber rasch erstickt Matisses élan vital – dieser unnachahmliche Einklang von Gegensätzen: Ruhe, Schweigen, Klarheit vereint mit lebhaften Rhythmisierungen, pulsierender Energie und Dynamik; Farben, die wie ein Becken aufeinanderprallen. »Und die Wirkung ist die eines Wiegenliedes«, so der Kunstkritiker John Berger 1954.
An seine Stelle tritt zunehmend der Eindruck von Harmlosigkeit dieser in sich abgeschlossenen, zeit- und weltabgewandten Szenen de luxe. Das liegt an der Massierung geballter »Weiblichkeit«, von der nicht nur »Matisses Werk zur Gänze infiziert ist«, wie die Kuratorin formuliert, sondern an der auch die Ausstellung krankt, weil sie das Weibliche zwangsläufig auch inhaltlich in den Blick rückt. Und da sieht man nun leider auch den banalen Matisse. Wie er immer wieder in seinen Interieurszenen die Frau zum Stillleben, Dekor, Requisit arrangiert. In seinen Atelier- Gewächshäusern nicht nur die bekannte »femme fleur« heranzieht, sondern auch die Frau als Gefäß. Zahllos sind die Parallelisierungen seiner oft mit dem Arm auf dem Kopf posierenden Akte mit allerlei Vasen, zahllos die traditionelle Assoziierung von Frauenbrüsten mit Früchten, zahllos die denkerisch ebenso unoriginelle Verknüpfung der Frau mit exotischen Grünpflanzen zu einer wahren Flut von femmes vegetabiles. Matisses Zimmer-Garten Eden, sein Wohn-Paradies ohne Sünde, ohne Störungen. Der Zeitgenossenschaft enthoben.
Als Picasso »Guernica« malte, stellte Matisse gerade die »Frau in blauem Kleid« fertig, in leuchtender, gerüschter Robe wie ein weibliches Blumenbouquet, eine Perlenkette spielerisch elegant um die im Schoß ruhende Hand geschlungen. Ab 1938/40 werden die Farbakkorde sogar immer strahlender. Die K 20 zeigt viele eindrucksvolle Beispiele. Darin kommt auch das »Außen« nur ästhetisch gezähmt vor, wie in all den Fenster-Bildern mit Blick in die Palmenwipfel der Côte d‘Azur.
»Bilder«-Blicke, die selbst noch die Welt zum angenehmen Wohndekor machen.
Das Paradoxe daran: Das Konzept will nicht nur Matisses Modernität neu damit beweisen, dass er durch solcherlei »Öffnungen « das traditionelle Sujet des Interieurs als intimen Schutzraum überwunden habe (was übrigens die Ausstellungs-Architektur von Kühn-Malvezzi mit offenen, gestaffelten Durchblicken wunderbar aufnimmt). Nein, der Anspruch reicht viel weiter. Man will die angebliche Matisse-Legende vom »Maler eines komfortablen bürgerlichen Lebens, der sich in eine Welt des Dekorativen ohne Leiden, ohne Kampf zurückgezogen hat«, revidieren zu Gunsten einer »instabilen Weltsicht mit gefährdeten Bezügen«.
Das erscheint nicht nur arg hoch gegriffen. Diese Sicht wird auch ausgerechnet durch die Werkauswahl widerlegt. Fast Bild für Bild bezeugt sie einmal mehr, dass Matisse seine berühmt-berüchtigte Programmatik von 1908 zeitlebens konsequent verfolgte: »Wovon ich träume, ist eine Kunst des Gleichgewichts, der Reinheit und der Heiterkeit, ohne verwirrende oder deprimierende Inhalte, ohne beunruhigende Gegenstände und sich aufdrängende Sujets, eine Kunst, die für jeden geistigen Arbeiter eine besänftigende Wirkung haben könnte, die ein Beruhigungsmittel ist wie ein Lehnstuhl, in dem man sich von körperlicher Anstrengung erholt.« Ein Ideal, das schon zu Lebzeiten des Künstlers ein Skandalon war. Aber ohne das ist er nicht zu haben – vor allem nicht beim Thema »Weiblichkeit und Interieur«. Zwar ist die Angst vor Matisses »Fauteuil«-Ideal nachvollziehbar. Ebenso wie der Druck, neue Perspektiven vorzuweisen. Überdies dürfte die Düsseldorfer Großschau ein wichtiges Argument sein bei den anstehenden Landes- Etatverhandlungen, um den seit Jahren gewünschten Erweiterungsbau für K 20 endlich durchzusetzen.
Wenn es denn ein neuer Blick auf Matisse sein sollte, hätte man sich statt dem Weiblichen im Gegenteil seinen Arbeiten mit männlichen Figuren zuwenden müssen. Das zeigt sich bei einer der wenigen Überraschungen der Schau, »La leçon de piano« mit dem Matisse-Sohn Pierre. Wie ein einziger harter, schneidender Keil, nicht nur im Gesicht des Jungen, wirkt die ganze monumentale Komposition.
Weitere Momente der Gefährdung hätten sich etwa zeigen lassen mit dem statuarisch erkalteten »La Conversation«, diesem wortlosen Paar Monsieur und Madame Matisse, oder mit dem melancholischen, bodenenthafteten »Violiniste à la fenêtre« und selbst mit »Jazz«, seinem zirzensischen Papierschnitte- Zyklus: »Ikarus«, »Der Clown«, »Der Messerwerfer«, »Der Albtraum des weißen Elefanten« und »Die Traurigkeit des Königs «. So aber geht in Düsseldorf vom König der klassischen Moderne weiterhin nur jene Beunruhigung aus, die darin besteht, dass er so souverän jede Beunruhigung ausschloss.
»Matisse – Figur Farbe Raum«, K20, Kunstsammlung NRW, Düsseldorf, Tel.: 0211/8381130, bis 19.2.2006; Fondation Beyeler, Riehen/Basel, 19.3. bis 9.7.2006; www.henrimatisse.de