Text: Melanie Suchy
Er redet in Bewegung. Seine entspannte Baritonstimme schreitet erst, rennt dann los, springt über Satzenden hinweg, eine Drehung auf der Stelle, noch ein Lauf, ein Schlenker und Pause, Anhalten in Spannung, wieder Gehen. Wim Vandekeybus erzählt gern von seiner Arbeit, von den Themen, die ihn fesseln und inspirieren. Ernst, engagiert, aufmerksam, kein Äh und Öh. Er biegt plötzlich um Kurven, findet dort Gedanken, die interessant sind. »Ich bin ein assoziativer Denker«, sagt er mit seinem sanft kollernden Gebrauchsenglisch. Das trifft auch auf seine Arbeit zu. Der Belgier spricht nicht wie ein Zweifler, er vertraut der Intuition. Das zur Banalität verkommene »Ich stelle nur Fragen« vieler Künstler hört man von ihm nicht. Er geht direkt drauf los. Seine Werke verhandeln die ganz großen Themen: Geburt und Sterben, Körper und Natur, Mensch, Tier, Macht, Begehren, Katastrophen. Vandekeybus kreiert Bühnenstücke, Filme und Fotos. Die Schublade »Choreograph« mag er nicht, denn ihm ist das Schauspielerische so wichtig wie Tanz. Die geforderte Präzision des einen Genres vertieft das jeweils andere, so scheint es. Wer oder was bist du auf der Bühne? Warum bewegst du dich? Jemand wirft einen Stein in die Luft, einen soliden Klotz, mit dem man Mauern bauen könnte. Der Werfer bleibt stehen, schaut nicht hoch, der Stein fällt. Im letzten Moment springt ein anderer heran, reißt den Unvorsichtigen weg, und ein Dritter fängt den Stein. Ihn interessiere die Notwendigkeit, sich zu bewegen, betonte Vandekeybus in früheren Interviews. Da er seine Kunst auch immer im Zusammenhang mit dem Weltgeschehen und gesellschaftlichen Tendenzen sieht, bot er auch eine Interpretation an: Es gehe darum, nicht teilnahmslos wegzuschauen, sondern zu helfen, ohne zu überlegen. Was der Zuschauer selbst in dem rasanten Spiel mit der Gefahr sieht – Frauen und Männer, die über die Bühne rennen, werfen, fangen, schubsen, fallen, weiterrennen –, mag Vandekeybus ihm aber bei aller Selbstauslegung nicht vorschreiben. Der Zeigefinger würde hier brechen.
Die Steine waren Teil seines ersten Bühnenstücks, und sie fliegen noch immer. Am 16. November ist sein Ensemble Ultima Vez mit der neuesten Produktion »Spiegel« in Essen zu sehen. Die Deutschland- premiere auf PACT Zollverein, einem seiner Koproduktionspartner, ist ein Wiedersehen. In den letzten Jahren war die Gruppe regelmäßig dort zu Gast: mit »Blush« 2002, »it« und «Sonic Boom« 2003 , »Les porteuses des mauvaises nouvelles« 2004 und im letzten Jahr mit »Puur «. Jenes erste Stück von 1987 hieß »What the body does not remember «, und auch in der neuen Produktion geht es um Erinnerung: zur Feier von zwanzig Jahren Ultima Vez. »Spiegel«, Anfang Oktober in Brüssel uraufgeführt, schaut zurück. Wobei ein aus der Erinnerung zitierter Tanz immer Tanz und somit gegenwärtig ist. Sehr direkt kommt das Stück daher. Es ist eine Montage aus Szenen früherer Stücke, braucht fast keine Worte und kein Bühnenbild. Dadurch wirkt es, um eine Vandekeybus-Lieblingsvokabel zu zitieren: pur, rein. Neu sei, dass er die großen Themen der damaligen Stücke weggelassen habe, sagt Vandekeybus. »Aber ich kann ja nicht ein Stückchen von einem Thema nehmen. Ich kann nicht ein bisschen über den Mord an der Kindheit, ein bisschen über das menschliche Begehren, ein bisschen über Blinde sprechen. Das ist alles raus, und so ist es mehr abstrakte Bewegungsenergie. It’s just«, kurzes Zögern, »a show«. Eine Rückschau, die sich als Einführung in das Werk von Ultima Vez eignet. Derart entblößt und auf Bewegungen beschränkt, wird das Besondere ihrer Bühnenkunst spürbar: der unbeschreibliche Moment, wenn ein Körper reagiert, noch bevor der Verstand sortiert und entscheidet. Hier, im Reflex, zeige sich Natur im Menschen, meint Vandekeybus. Die Nähe zum Tier und eben zur Körperlichkeit von Geburt und Tod, die in unserer Gesellschaft heutzutage gern verdrängt wird. Vom gedanklichen Überbau einmal abgesehen, macht das ständige reale Risiko die Darsteller auf der Bühne sehr wach, sehr präsent. Es ist viel Gefühl in dem, was sie tun, ohne dass sie es dick auftragen müssten. Emotionen, die sich dem Zuschauer direkt mitteilen. Hier nähert sich »Spiegel« dem Ursprung der Tanz- und Theaterkunst überhaupt: dem Ritual. Vandekeybus meint eine Sprache oder Kommunikation, die ohne Bedeutungen auszukommen sucht: »Wir wollen nicht verstanden werden, wir tun es einfach. Und das Publikum fühlt es, es schaut fasziniert zu.«
Die Tänzer springen einander an, klammern, zerren, winden sich um Hüften und Schultern; sie werden gehoben, gestützt und abgeworfen, gestreichelt und gehauen. Sie pressen Arme und Köpfe aneinander, weichen aus, schlagen mit Schultern, drücken Arme weg, tragen leblos scheinende Körper umher. Das ist der typische, hektische Vandekeybus-Stil, der in seinen besten Momenten offen lässt, wie viel daran Genuss, Gier, Schmerz ist. Wobei auch die Ruhemomente, wie angehaltener Atem, große Spannung tragen oder, wie beim Paartanz der Orangenhälften, nach Poesie duften. Mit Tanz, mit seiner Wachheit im Raum, seien ja zur Zeit wenige in der Tanzszene beschäftigt, meint Vandekeybus: »Da geht’s viel um ›ich und wir‹. Ich glaube, ich bin total altmodisch«, sagt er, bezogen auf die Welle des so genannten Konzept-Tanzes.
Wim Vandekeybus kann sich das uncool Ungestüme, Leidenschaftliche leisten als weltweit gefragter Tanz- und Theatermacher. In etlichen seiner Stücke tanzte er selber. Bis jetzt konnte er seinen Performern immer alles vormachen, was er von ihnen fordert. Für die Wildheit habe er bezahlt – mit Verletzungen, sagt Vandekeybus ein bisschen nachdenklich, aber ohne Bedauern. Vor kurzem hat er sich das Knie gebrochen, als er einen Verletzten ersetzen wollte. Seitdem ist er vorsichtiger geworden. Der 43-Jährige erwartet von seinen Akteuren vollen Einsatz. Er erfreut sich an der Lust, alles für möglich zu halten, die er bei seinen Projekten mit Jugendlichen erlebt. Seinen Arbeitsprozess kann er kaum analysieren. Es ist eben eine assoziative Art. Ausgehend von einer Idee, sehe er, mit Blick auf jeden einzelnen Tänzer und Schauspieler, »Möglichkeiten«. Die Wege entstehen hier wohl beim Gehen. Einfach tun! Das scheinbar Planlose kann, so sagten Ensemblemitglieder einmal, auch sehr anstrengend sein. Es braucht viel gegenseitiges Vertrauen. Das gehört unbedingt zum Risiko dazu, was seinen Stücken manchmal, trotz der dargestellten Brutalität (»So ist die Welt!«), etwas Tröstliches gibt.
Das Leiden und Sterben von Kreaturen ist Wim Vandekeybus seit der Kindheit in Herrenthout, Provinz Antwerpen, vertraut. Sein Vater war Tierarzt. Der junge Wim nahm ein paar Jahre Anlauf, spielte Theater, turnte, studierte ein bisschen Psychologie, fotografierte, drehte Kurzfilme, nahm Tanzunterricht. Sein Landsmann Jan Fabre begeisterte ihn so sehr mit einem Stück, dass er bei ihm zur Audition antrat. Zwei Jahre lang tourte er dann in dem Fünfstundenstück »De Macht der theaterlijke dwaasheden« um die Welt. 1986 beschloss er, mit einigen anderen selbst ein Projekt zu stemmen. Erfahrungen aus drei Wochen ununterbrochener Beschäftigung mit einem hyperaktiven Kind flossen darin ein. Er sammelte mit Mühe Geld, fand Unterstützer, gründete Ultima Vez, was übersetzt »das letzte Mal« heißt. Zu seinem großen Glück hatte »What the body does not remember« 1987 Erfolg, bekam in New York den Bessie-Award. Jedes Jahr folgte ein neues Stück, zunehmend integrierte Vandekeybus Film in die Arbeit, Schauspieler, kooperierte mit dem Dramatiker Peter Verhelst, mit dem blinden marokkanischen Tänzer Saïd Gharbi, dem deutschen Varietékünstler Carlo Verano (Jahrgang 1903) und konnte sich die Musiker aussuchen, die speziell zu seinen Projekten ihre Lieder und Klänge beisteuerten: David Byrne, Peter Vermeersch, Marc Ribot, Thierry De Mey und andere. Eine Bandbreite, die auch »Spiegel« bereichert. Einige der Musiken werden nun auf andere als die ursprünglichen Szenen gesetzt, und so paart sich das körperlich Direkte mit einer Musik wie aus einer anderen Welt, einer Art Traum im Raum.
Es heißt oft, Vandekeybus führe seine Akteure an Grenzen und darüber hinaus, genauso wie er sich nicht auf ein Genre festlegen lässt. Was aber ist für ihn selbst die Grenze? Das Ende des Lebens, die Sterblichkeit, wobei selbst ein langes Leben zu kurz sei. »Je mehr du tust, desto mehr fühlst du auch, dass Leben vergangen ist. Plötzlich merke ich: ffffooo! Es geht schnell!« So verstanden, werden selbst das düster Dräuende, Verzweiflung, Ekel und Einsamkeit, Liebes- und Hassattacken, wird das Herzrasen in seinen Stücken zur Hymne an das Leben. //
Am 16., 17. und 18.11 bei PACT Zollverein, www.pact-zollverein.de, www.ultimavez.com