TEXT: CHRISTOPH VRATZ
Hin und wieder findet sich in einer meiner Jacken noch ein Ticket, absichtlich dort vergessen. Dann zieht die Erinnerung Bahnen: Trioabend Ashkenazy, Perlman, Harrell, 7. Mai 1994. Oder Thomas Hampson, Liederabend mit Mahler, 2. Mai 1995. Erschütternd sein Gesang vom Soldatenleben nach »Des Knaben Wunderhorn«.
Sie hat mich geprägt, teils sogar mein Leben in andere Bahnen gelenkt: Kölns Philharmonie. Die Eröffnung 1986 mit Mahlers Achter ist an mir vorbeigerauscht. Allenfalls Schemen tauchen auf: »Köln hat jetzt auch einen großen neuen Konzertsaal«, sagte mein Vater. Für jemanden, der in Mönchengladbach wohnte, war Düsseldorfs Tonhalle jahrelang erste Adresse.
Auch mein erster Besuch im neuen Kölner Musik-Tempel ist mir nicht mehr präsent. Umso klarer ein unvergessenes Doppel. Februar 1991: Dietrich Fischer-Dieskau singt »Winterreise« und zwei Tage später »Dichterliebe«. Bei Schubert bricht er mitten drin ab, weil ihn ein Hörgerät stört. Erst Minuten später besingt er Wanderers Trä-nen im Strom. Bei Schumann lockt er mich in den »wunderschönen Monat Mai«, während draußen Schneeflocken Saltarello tanzen. Nach Konzert-Ende ist alles weiß, kein Mai zu erahnen.
Der 3. Juni 1998 ist wieder so ein Tag, den ich ein Leben lang mit mir herumtragen werde. András Schiff spielt die Goldberg-Variationen, himmlisch. Ich bin in einer anderen Welt. Zu Hause erfahre ich, dass nachmittags mehr als hundert Menschen beim Zugunglück in Eschede umgekommen sind. Die Erinnerung an Bach – allenfalls ein kleiner Trost.
Immer wieder führt mein Weg nach Köln. Studententickets für wenig Geld – das lockt. Der Bau mit seinem weiten Foyer und den warmen Holztönen, im Innern amphitheatral geschwungen, mit den hoch aufragenden Rängen und roten Sesseln hat auf mich immer etwas Behagliches ausgestrahlt. Und Nobles.
Kurz vor Ende des Studiums, als uns die Dozenten einschärfen, nicht nur brav Scheine zu sammeln, sondern die Praxis zu testen, suche ich einen Praktikumsplatz. Warum nicht Köln? Es klappt. Alltags-erkundung. Ich blicke durch das Netz einer knappen, effektiven Organisation. Wenn das Telefon klingelt und »FXO«, Kölns damaliger Intendant Ohnesorg, am Apparat ist, stehen alle sozusagen stramm. Ohne ihn hätte es das Haus wohl nie gegeben. Ich blättere mich durchs Fotoarchiv, entdecke Bilder von Carlos Kleiber. Wie, der war auch hier? Wann das? 1987 muss es gewesen sein. Wenn ich das gewusst hätte… Vier Wochen Praktikum in der Hochkampfzeit, als die aktuelle Jahresvorschau erstellt wird. In dieser Zeit sehe und höre ich abends erstmals die Philharmoniker aus Wien und Berlin. Abbado mit Bruckners Neunte. Wenige Wochen später erscheint die CD. Sofort gekauft.
Dass in diesen Wochen meine stille Entscheidung an Form gewonnen hat, nicht in den ursprünglich angestrebten Lehrer-Beruf zu gehen, wurde mir erst später bewusst. Eines Tages darf ich erstmals mit einer Pressekarte in den Saal. Und über das schreiben, was ich zu sehen und zu hören bekomme. Keine Ahnung, wer aufgetreten ist und wann. Eine Kette an Eindrücken zieht vorüber: Edita Gruberova, die sich virtuos durch Donizettis »Lucia« gurgelt; Yundi Li gibt sein Deutschland-Debüt; Kurt Moll nimmt Abschied; Kurt Masur versemmelt Beethoven; Susan Graham verzaubert alle; Juan Diego Floréz sagt ab.
Ich habe vor und in der Philharmonie gewartet, gefroren, geschwitzt, draußen auf Rest-Karten gehofft und drinnen mitgefiebert, wie Siegfried Jerusalem mit einer Erkältung kämpft oder Seiji Ozawa bei einer Musiktriennale am Ende von Mahlers Zweiter die Auferstehung dirigiert. Bevor ich im Elysium ankommen kann, holt mich und die anderen 2000 Menschen im Saal ein brachialer Huster unsanft auf die Erde zurück.
Kölner Philharmonie; Eröffnung: 14. September 1986; Architekten: Peter Busmann, Godfrid Haberer; Intendanten: Franz Xaver Ohnesorg (1983–1999), Albin Hänseroth (1999–2004), Louwrens Langevoort (seit 2005); Konzerte pro Jahr: rund 450; Besucher pro Jahr: rund 650.000; insgesamt mehr als 14 Millionen; Hausorchester: WDR Sinfonieorchester Köln (Chefdirigent: Jukka-Pekka Saraste), Gürzenich-Orchester Köln (Chefdirigent: Markus Stenz).
Programm zur Eröffnung der Jubiläumssaison: 23. bis 28. August West-Eastern Divan Orchestra unter Daniel Barenboim mit Beethovens Sinfonien Nr. 1-9; 3. September Berliner Philharmoniker unter Simon Rattle mit Mahlers Sinfonie Nr. 7; 6. September Philadelphia Orchestra unter Charles Dutoit mit Sibelius, Liszt, Ravel, Rachmaninow; 7. bis 9. September Höhner / Orchester der Jungen Sinfonie Köln