DIE KUNSTFERTIGKEIT DES SCHEITERNS
»Drei Schwestern« in Bochum
Längst hat man im deutschen Theater aufgehört, Tschechow als Melancholiker zu begreifen, und das Komische in seinen Stücken entdeckt. Unvergessen eine der Pioniertaten dessen, als Dimiter Gotscheffs Düsseldorfer Inszenierung den »Kirschgarten« nah an die russische Absurde (Daniil Charms & Co.) rückte, an Kafka, an die Dichtwerke moderner Sinnleere. Das war 1995, mittlerweile gehört kein Mut mehr dazu. Und so gibt es auch in Paul Koeks »Drei Schwestern« am Bochumer Schauspielhaus keine Leinenjacketts, keine Birken, keine Provinz, aus der hinaus »nach Moskau!« sich zu sehnen einzig verbliebene Lebensglut ist. Die drei titelgebenden Frauen Olga, Maša, Irina leben mit ihrem Versagerbruder Andrej, auf dem dennoch ihre ganze Hoffnung ruht, sowie allen Freunden in einem funktionalen Mehrgeschosshaus, das über einem Souterrain vier Etagen hoch im Schnürboden verschwindet und das gesamte Bühnenportal ausfüllt (Theun Mosk). Darin wirken die anfangs in rosa Rausch gesteckten Schwestern wie Puppen in der Stube, allein das Haus ist eine Wohn-, das Leben keine Sehnsuchts- und Traum-, sondern eine Unterhaltungsmaschine – im doppelten Wortsinn: Reden und sich leidlich vergnügen ist alles, und alles in gutgelaunter Kälte. Der Müßiggang, zu dem diese Menschen als einzigem fähig sind, wird mit Sachkunde absolviert; gelegentliche Erregung professionell gehandhabt. Man steht wartend herum, klettert auch mal treppauf, treppab, reckt die Arme, singt Bruchstücke von Liedern, schaut den anderen zu, kaspert ein bisschen, tanzt. In den »Drei Schwestern«, schrieb Peter Brook, »entfalte sich das Leben wie ein Tonband, das man nicht abgestellt hat.« So ist es hier; wozu die Dauermusik – ein Zirpen, Klopfen, schräges Tüten – beiträgt, die Koeks Kooperations-Ensemble »Veenfabriek« live liefert. Die Regie bringt das Ensemble fast perfekt zusammen, doch keine Figur berührt. Wieder zeigt Koek – wie schon beim »Candide« vor einem Jahr – Scheitern als saubere Kunstfertigkeit. | UDE
MIT DEM HUND GEWEDELT
»Kaos« nach Pirandello am Theater an der Ruhr
Eine Frau sitzt im weißen Kleid auf einem Stuhl und liebkost ein Buch, mit Augen, Finger, Zunge. Immer intensiver vertieft sie sich in die Seiten, rutscht phantasieversunken auf den Boden und peu à peu zur Bühne hinaus. Vier Männer in weißer Unterkleidung sitzen dito stumm auf ihren Stühlen, dann schnellt hier ein Arm in die Höhe, zuckt dort eine Fratze auf, die Obsessionen eskalieren, bis die Riege am Boden liegt. Drei Frauen übernehmen, nach einer knappen halben Stunde fällt das erste Wort: »Ich hätte ein Meisterwerk werden können.«
Im Mülheimer Theater an der Ruhr inszeniert Roberto Ciulli »Kaos«, eine Collage mit Sätzen, Bildern, Minidialogen aus Stücken und Prosatexten Luigi Pirandellos. Der sizilianische Dramatiker hatte eine Frage: Was ist Wirklichkeit? Seine Stücke sind allesamt Spiele mit dem Spiel. Und so sitzen die drei Frauen nun da, ziehen ihre Perücken herunter, schminken sich ab, altern minutenschnell und brezeln sich wieder auf – als grelle Schabracken. Ein Hauch von Bausch weht auf der Mülheimer Bühne, doch Körperimprovisationen mit Stühlen über vorgegebenen Sätzen, das kann das Wuppertaler Tanztheater um ein Vielfaches besser; die Inszenierung fängt sich, sobald der flüchtige Umriss einer Figur entsteht. Etwa, wenn später alle in melancholischer Selbst-Vergessenheit dasitzen und mit den einzeln fallenden Sätzen winzige Szenenbilder aufsteigen, Bilder des Aus-der-Welt-, wenn nicht des Auf-den-Hund-gekommen-Seins. Denn am Ende regrediert das Ensemble zu einem Rudel kläffender, heulender, hechelnder Vierbeiner – kläglicher Endpunkt exzessiver Beschäftigung des Schauspielers mit der Körpersprache. | UDE
ZU KAPITAL GEMACHT
Wagners »Fliegender Holländer« in Dortmund
Eintritt in eine Verlierer-Welt: ein altmodisches Kontor im ersten Aufzug, später ein Friseursalon der 50er Jahre, schließlich eine muffige Seefahrerkneipe. Es gibt keine Schiffsromantik auf Mathis Neidhardts Bühne im Dortmunder Opernhaus, sieht man vom großen Meeres-Prospekt ab, der nur zu Anfang und am Ende tosend in die Szene spielt. Für seinen Neubeginn als Opernchef (Motto: »Wo, wenn nicht hier«) hat Jens-Daniel Herzog mit Wagners »Der fliegende Holländer« ein zugkräftiges Stück gewählt, das noch nicht durch die späteren Überlängen schreckt und das mit dem Reiz des Schauerdramas fesselt. Herzog verlegt die Handlung in die Mitte des vergangenen Jahrhunderts. Der Nachkrieg hat hier Wunden geschlagen. Dalands Angestellte tragen Frisur und Kleidung, die an Hollywoods Schwarze Serie erinnern, auch der Holländer wird nicht als Spukgestalt gezeigt, sondern als tüchtiger Geschäftsmann im Nadelstreifen-Anzug mit Aktenkoffer.
Folglich geht es nicht nur um Wagners Dauerthema Erlösung und Treue bis in den Tod, sondern um den Tauschhandel Geld gegen Liebe. Und damit um das zweite zentrale Motiv des Barrikadenstürmers Wagner: Kapitalismus. Bevor der Holländer auftritt, scheint Dalands Firma in Nöten. Hektisch wird telefoniert, von der Decke regnet es Papiere. Im Koffer des Holländers, der sich mit Daland schnell handelseinig wird, rascheln Geldbündel, als sei er der reiche Onkel aus Amerika statt eines Untoten. Senta trägt sein Bild als gefaltetes Poster im Kittel und entlastet sich vom Stress durch Entfremdung, indem sie sich die Arme aufritzt.
Wir sehen reale Menschen, keine Gespenster. Entmythisiert und entdämonisiert. Statt des Zombie-Chors treten schwarz gekleidete Männer in ein Lokal, stumm und versteinert, während der Chorgesang aus der Funken sprühenden Jukebox dröhnt.
Auf bemerkenswertem Niveau bewegt sich das neu aufgestellte Sänger-Ensemble. Christiane Kohl als Senta ist ein Ereignis: eine lyrisch geführte, perfekt sitzende, zu subtiler Zartheit fähige Stimme, deren dramatische Ausbrüche ohne Kraftanstrengung auskommen. Andreas Maccos Holländer glänzt sonor kultiviert, klingt allerdings etwas einfarbig. Wen Wie Zhang ist ein imposanter Daland, wenig väterlich, sondern geschäftstüchtig. Mikhail Vekua zeigt den verschmähten Liebhaber Erik nicht als Jammergestalt, sondern als tragische Figur mit gebieterischem Tenor. Jac van Steen koordiniert die Dortmunder Philharmoniker souverän. Ein hoffnungsvoller Einstand. | REM
LEERE IM KOPF
Offenbachs »Contes d’Hoffmann« in Essen
»Hoffmanns Erzählungen« ist – ähnlich dem Innenleben seiner Hauptfigur – wie ein offenes oder poröses Behältnis. Schillerndes Spiel um Imagination und Realität, Liebe und ihre Projektionen, Konstruktion und Dekonstruktion von Identität. Von Jacques Offenbachs einziger Oper gibt es keine gültige Fassung, da der Meister über dem Fragment verstarb. Für die Neuproduktion am Aalto wurde das Aufführungsmaterial neu sortiert, kräftig eingekürzt und so das Werk ausgenüchtert. Regisseur Dietrich Hilsdorf entwickelt – mit analytischer Distanz – das Geschehen aus der schwarzen Leere des Theaterraums. Johannes Leiacker hat die Weite der Bühne lediglich mit rauschenden, halb transparenten roten Vorhängen umrahmt, gelegentlich fährt eine Fensterfront herein, mal ein offener Sarg, dann ein Lotterbett; Rande stehen Regietisch und ein Klavier. Es ist die Leere im Kopf des Poeten, Komponisten, Malers und notorischen Trinkers Hoffmann, aus der sich die surrealen Geschichten um die drei Damen ranken, die doch Aufspaltungen der realen Geliebten Stella sind. Schwarz gekleidet sind die Figuren – Theaterbesucher, die aus dem hell erleuchteten Zuschauerraum her auftreten und als verspätet Kommende stören.
Stefan Soltesz dirigiert transparent und im Feinschliff, verzichtend auf romantischen Klangrausch, obgleich die Essener Philharmoniker die Musik moussieren lassen. Hoffmann, von Thomas Piffka differenziert gestaltet, hat die Flasche am Hals: Ganz und gar ausgebrannt, giert er nach der Illusion und fixiert die Puppe Olympia mit dem Opernglas. Die Bösewichte Coppélius, Dr. Miracle und Dapertutto sehen hier einander nicht von ungefähr verteufelt ähnlich, sind doch sie und die drei fatalen Liebesdramen nur Variation von Hoffmanns neurotischem Mechanismus. | REM