Mit Thomas Thieme ließe sich gut über Fußball reden, hatte mir sein ehemaliger Schüler Devid Striesow mit auf den Weg gegeben. Und auch über Anklam, aber darauf würde das Gespräch ohnehin irgendwann zulaufen. Da ich aber von Fußball rein gar nichts verstehe, dachte ich, lass es lieber. Thieme kam von selbst darauf, nachdem wir schon zwei Stunden im Schauspielhaus Bochum, wo er Büchners »Dantons Tod« vorbereitet, zusammen saßen. »Vom Fußball hole ich mir die Tricks, die Leichtigkeit.« Er beobachte die Kicker ganz genau, etwa Rudelbildung oder Kopfball-Situationen, wenn zwei Spieler auf Atemnähe einander fast die Birne einrennen. Diese Dringlichkeit, dieses Extrem, man könnte auch sagen: das Zarte und Wuchtige eines Qualtinger, eines Heinrich George erfindet sich neu in Thiemes Spiel. In der Postmoderne, die keine Absolutheiten kennt, sondern nur noch Intensitäten, ist er ein Garant für Wahrhaftigkeit. Zumindest für die seiner Figuren in ihrer Präsenz. »Es gibt eine Art von physischer, an den Körper geketteter Sprache« – Thieme beherrscht sie, nimmt sie auf. Wo?
Auch von der Straße. Von dort und aus der bildenden Kunst hole er sich seine Anregungen. Thieme, Jahrgang 1948, hatte streng »Brechtgestützt « in der Hauptstadt der DDR das Theaterspiel gelernt, zuvor – als habe Leander Haußmann es inszeniert – in einer Rockband und in der Nationalen Volksarmee gedient und u.a. in Görlitz, Magdeburg und Halle gespielt. Im Westen kam er ab 1984 mit dem ganz anderen in Berührung, mit dem »Method-Acting«; und er zählt Beuys, Warhol, Pollock, Fassbinder auf: »Das gab komische Reibungen.« Da war der Schauspieler Thomas Thieme auf einmal da, eine staunenswerte Erstgeburt, hervor gegangen aus vielerlei Erbmasse. Ein Ausnahmeschauspieler, der mit Castorf, Dresen, Grüber, Karge, Ostermeier, Palitzsch, Perceval, Peymann, Schleef, Wilson und zuletzt mit Barbara Frey gearbeitet hat, der in Wien und Weimar, in Berlin, München und Zürich spielt. Und nun in Bochum. Der sich in der »zugigen Gegend« der Freiheit wohl fühlt, weil er «keine Ensembleversammlung mehr aushalten« würde und doch auch Sehnsucht nach Einbettung verspürt. Ein Einzelgänger aus Instinkt und Notwendigkeit.
»Ist denn nur die Tugend getauft, sind denn alle Leidenschaften Heiden?«, fragt Ferdinand in »Kabale und Liebe«. Ein Thieme-Satz, obwohl der Schauspieler mit einem Schiller-Heißsporn so gar nichts gemein hat. Thieme setzt sich Emotionen aus – den eigenen Aggressionen und Depressionen, die zum spielerischen Antrieb werden und »wenn es gelingt, ein kreatives Moment bilden«. Er fügt hinzu: »Ich bin immer entsetzt, wenn Schauspieler sich schonen … ich weiß nicht wofür.«
»Die Sünde ist im Gedanken.«, sagt Büchners asketischer Robespierre. »Es gibt keine Verbrechen, so groß sie auch sein mögen, die zu begehen ich mich an gewissen Tagen nicht fähig gefühlt habe«, sagt Goethe. Was der in Weimar geborene Thieme verstehen wird. Faszi- niert von der Welt der Gewalt sah man ihn 1994 an der Schaubühne unter Grüber als Polizist in Genets »Splendid’s«, den er flicflac-haft komödiantisch wie eine holzgeschnitzte Kasperle-Figur paradieren und glotzen ließ. Wie auch hätte er ohne Aggressivitäts-Potenzial Richard III. spielen können, den die Erfahrung plagt, »dass die Hunde bellen, hink ich wo vorbei«.
Überhaupt, muss man nicht über den Schauspieler Thieme reden, bevor man protokolliert, was man mit ihm beredet? Zu seinen etlichen Rollen, darunter Kleists Adam, Brechts Baal, Marlowes Edward II., Faust, Othello und Borkman, gehören zwei weitere, die er mit dem flämischen Regisseur Luc Perceval gestaltete, von dem Thieme sagt, dass er ihm »den Raum aufgemacht und zur Verfügung gestellt« habe.
Schauspieler des Jahres 2000 wurde er für Dirty Rich Modderfukker, als der er in einer Tarantino-Version der Shakespeare-»Rosenkriege « in die zwölfstündigen »Schlachten« der Salzburger Festspiele und danach weiter zog. Aber Thieme vertrat nicht das Regie-Konzept, in dem die schurkische Macht sich selbst vorführt, sondern zeigte einen Mensch in seinem Widerspruch. Einen Turm von Mensch, tapsig und mit der tänzelnden Grazilität des Schwergewichts. Hirnakrobat, Stratege, Überwältigungsrhetoriker, dem ganz kannibalisch wohl ist. Unüberwindbar bis zum eigenen Sinn- und Selbstverlust. Ein aus der Welt und ihren sozialen Zusammenhängen Gefallener. Wie Büchners Danton mit dem Wissen geschlagen, dass »wir immer auf dem Theater stehen, wenn wir auch zuletzt im Ernst erstochen werden«.
Als »King of Pain« in Percevals »Lear«-Adaption fragt er, von Alzheimer und dem Verlust aller Ich-Sicherheit betroffen: »Kennt mich jemand hier? Nee, ik ben niet Lear. Is dit Lears Gang, dit seine Sprache, sind dit zijn Ogen, is dit zijn Kop?« Thieme kauert, das Krönchen schief auf dem Kopf wie eine Figur von James Ensor. Es dauert und dauert, bis die Worte aus ihm heraus würgen und fluchen, in deutschen, flämischen, französischen Brocken. Er hat keine Macht mehr über andere, vor allem keine Macht mehr über sich selbst – er lässt unter sich gehen. Der geriatrische Patient wird wieder zum Kind, analen Charakter, alten Scheißer. Zum Erinnerungs-Untergeher, dem die Sturmheide im Schädel dröhnt, Schäden anrichtet und ihm die Sprache zernichtet, bis sie ihm zwischen den Zähnen hervor pfeift. Er sei kein Verstellungskünstler, verfüge nicht über etliche Möglichkeiten des Zauberns, sei kein »gefinkelter« Schauspieler, sagt Thieme. Habe aber ein starkes Verhältnis zu seinem »Materialwert« entwickelt, zumal er sich ja langsam seinem Alterswerk nähere . . . Thieme sucht Rollen und findet sich selbst. Wie den Danton, der säuft, frisst, lebt und liebt und nur unterscheidet zwischen groben und feinen Epikureern. Eine Figur, die für Thieme eine bestimmte Physiognomie brauche, deren Worte nach einem schweren Mann verlangten.
Also nach Thieme: »Danton ist mein Schicksal«. Fünf Anläufe habe es gegeben – fünfmal seien Inszenierungen geplatzt, darunter die an der Schaubühne. Nun nimmt er die Sache selbst in die Hand; »20 Jahre zu spät«, wie er findet, denn der historische Georges Danton stieg 1794 mit 35 Jahren aufs Blutgerüst. An Büchners Drama über die fatalen Folgen der Französischen Revolution interessiert ihn die deutsche Geschichte und ihre Bruchstellen. Kennzeichen D. »Ich bin schon in der fünften deutschen Administration «, errechnet der noch unter sowjetischer Besatzungshoheit geborene Thieme, der die DDR verließ, nachdem er drei Jahre lang auf die Genehmigung seines Ausreiseantrags gewartet hatte: zuletzt am Theater in Anklam, wo Frank Castorf Oberspielleiter war – Anklam, letzte Hemmschwelle für legale Bühnen-Republikflüchtlinge.
Deutsche Zäsuren – Thieme zählt auf: 17. Juni und Ungarnaufstand 1956, Mauerbau, Kubakrise, Wende, »keine Revolutionen, sondern Ereignisse, in denen Haltungen auf den Prüfstand mussten«. Auch hier teilt sich die Optik: Westdeutschen stand, dachten sie an Revolution, zunächst die Französische vor Augen; vielleicht noch die 68-er-Revolte. In der DDR, so ihr ausgebürgerter Bürger, »hatte der Begriff immer eine konkrete Bedingung – meinte 1917 in Russland, keine bürgerliche, sondern die proletarische Revolution«.
Mit der »Reflexionsmanie« und Melancholie des Danton habe er Schwierigkeiten, mault Thieme. Da habe für ihn Danton etwas Zähes, das einen herabziehe, einen zur Seite sinken lasse wie die Titanic, wogegen man sich anstemmen, das man durchlöchern müsse. In dieser Grundhaltung sind sich übrigens die Antagonisten – er nennt sie die »Schwadroneure « – Danton und Robespierre (den in Bochum Ernst Stötzner spielt) nicht so unähnlich. Sagt der eine: »Wir sind Dickhäuter, wir strecken die Hände nacheinander aus. Aber es ist vergebliche Mühe, wir reiben nur das grobe Leder aneinander ab, – wir sind sehr einsam.« Sagt der andere: »Es ist alles wüst und leer – ich bin allein.«
Für Thieme ist Büchners Drama hier ganz akut. Fordert ihm ab, es nicht »gegen unsere allgemeine Tendenz zu Depression und unverschämter Kapitalismuspräsenz zum Endspiel werden zu lassen«. Thiemes Interesse gilt dem Volk, in seinen »kleinen giftigen Zwischentexten und Szenen«. Trotz allem und gerade wegen seiner Erfahrungen in der Diktatur, die er nicht mehr aushielt, weil er die Bevölkerung nicht mehr aushielt, das geistig Lähmende, Geduckte und Bespitzelnde des Ostens. Ein Bürger bei Büchner sagt den Satz, der 200 Jahre danach einer friedlichen Revolution zur Parole der Demos wurde: »Wir sind das Volk«.
Thieme, der Ernst Thälmann verehrt und Rosen an seinem Denkmal auf dem Platz der 46000 in Weimar niedergelegt hat, hält viel vom politischen Theater: »mehr von Heiner Müller als von Botho Strauss, mehr von Majakowski als von Ibsen«. Ein zwar plakatives Diktum wie die Verlautbarungen der pathetischen Persönlichkeit des Mijnheer Peeperkorn – doch nicht weniger bezwingend. Thälmanns Motto »Seid bereit, immer bereit« möchte zu Thieme passen, der eine wachsame Wahrnehmungsschärfe zu haben scheint. Bei ihm ist nichts lau – die biblischen Propheten hätten ihre heilige Freude gehabt. Man merkt die Herkunft aus Luther-Land. »Alles was ich denke und bin hat mit Weimar zu tun«, sagt Thieme, dem »Mitte und Maß der Thüringer Landschaft« existenziell wichtig sind. Sie ist seine portable Heimat, auch wenn er sich jetzt wieder dort ein Haus gekauft hat.
»Und er sah nach Thüringen, welches er jetzt hinter sich ließ, mit der seltsamen Ahnung hinüber, als werde er nach langen Wanderungen von der Weltgegend her, nach welcher sie jetzt reisten, in sein Vaterland zurückkommen, und als reise er daher diesem eigentlich zu.« Das hat der heimatverlorene und heimattreue Einar Schleef seinem Mutter- Roman »Gertrud« vorangesetzt – ein Satz von Novalis aus dem »Heinrich von Ofterdingen «.
Fortwährende Annäherung. »Ich mäßige mich aus Selbstzucht. Extreme Kunstformen können nur aus der Mitte entstehen, sonst sind sie angeschafft.« Er brauche diesen Kern, gerade weil er an Grenzen gehe, an denen er so »lästig, peinlich, krass« werden könne. Thieme macht sich kein X für ein U vor. Würde ein Tintenfass in der Nähe stehen, müsste sich der Teufel fix aus dem Staub machen. Er behauptet sich mit klaren Positionen. Etwa wenn er – »vom Kritiker zum Gegner von Schauspielschulen« gewandelt – über die Ernst-Busch-Schule und ihre Ausbildung rechtet, in ihrer »Mischung aus Kadettenanstalt und Kaderschmiede«, preußischer und sozialistischer Disziplinierung, die neben vielen Begabungen auch Corinna Harfouch, Fritzi Haberlandt und Nina Hoss absolviert haben. Über eine Schule, die schon immer etwas Elitäres an sich gehabt habe, wie ihr Absolvent der siebziger Jahre, Thieme, der zwei Jahrzehnte später selbst dort unterrichtete, aus eigener Anschauung weiß, aber die so recht erst nach der Wende »ins Kraut geschossen« sei und »Rummel« veranstaltet habe. Er halte nichts vom Übergewicht des Technisch-Handwerklichen und Perfekten, während »jede Form seelischer Klärung vernachlässigt « würde und es beim Diskurs von Schauspieler und Figur hapere. Auf den aber kommt es an.
Da kennt Thieme sich aus, der Schauspieler- Autor. Sein ehemaliger Schüler Striesow schwärmt von dem Lehrer, dass man bei ihm nichts haben erfüllen müssen, und von dem Kollegen, dass er »immer wieder neu anzuschauen sei, ohne dass er groß was tut«. Außer Kraft seiner Persönlichkeit den Raum zu verdrängen. Diese Freiheit braucht er – und sie braucht man von ihm. Regisseure wie Castorf und Perceval wollen sie. Andere nicht. Andrea Breth zum Beispiel. Die wollte ihn gewissermaßen maniküren. »Aber raffiniert kann ich nicht«, sagt Thieme. Er fand, im Breth-Theater schmecke es »pelzig«. Man hat sich getrennt.
Aus noch einem »Programm« sei er ausgestiegen – nach drei himmelstürmenden, das Theater aus den Angeln hebenden Arbeiten. Lang ist es her. Der Regisseur war sein »Idol, ein begnadeter Mensch«, auf dessen Talent, wahrscheinlich Genie er geradezu »wadenbeißerisch neidisch« gewesen sei. Als er aus der DDR nach Frankfurt am Main kam – »ein Glücksfall«, lernte er ihn kennen, den Mann aus Thüringen. Eigentlich kannte er ihn schon aus seiner Hochschulzeit: Einar Schleef. Dazu gäbe es noch viel zu sagen. »Aber was bedeutet es schon, was man über Menschen sagt«, raunt die Norne Marlene Dietrich über den toten Orson Welles in dessen film noir »Touch of Evil«. Schleef, das ist ein Lebensroman, ist »Droge Faust Parsifal«. Das Buch liege immer neben seinem Bett, sagt Thomas Thieme. Schleef, das ist die Ordnung und das Chaos. Die Disziplin und der radikale Bruch mit allem. Die Verabredung und die Aufhebung des Verbindlichen. Die Umwertung aller Dinge. Wie kommt Thieme selbst mit dem System klar, mit der Wiederholung des eigentlich Unwiederholbaren auf der Bühne? »Du musst dich zivilisieren. Es geht nicht ohne Kontrolle – oder nur mal drei Tage wie bei den Wiener Aktionisten. Der Fake, ein Scheißwort, lässt sich nicht vermeiden. Das deprimiert mich, aber etwas anderes kann sich der Repertoire- Betrieb nicht erlauben.« Thomas Thieme nennt es »kontrollierte Ekstase«. //
Premiere von »Dantons Tod« im Schauspielhaus Bochum: 3. Februar, 2006.