TEXT: ULRICH DEUTER
Es gibt keine richtige Lösung des Falschen – dieses traurige Resümee frei nach Adorno muss ziehen, wer sich mit der Restitution von in der Nazizeit beschlagnahmten oder unter Zwang verkauften Kunstwerken befasst. Zu groß ist auf der einen, der Erben- und Überlebendenseite, der Schmerz, mitansehen zu müssen, wie das Eigentum und die Herzensschätze der verfolgten, vertriebenen oder ermordeten Verwandten die Wände deutscher Museen zieren, oft ohne dass das Schicksal ihrer früheren Besitzer auch nur erwähnt würde. Zu groß die Fassungslosigkeit erleben zu müssen, mit wie viel zeitschindender Finesse diese Museen zu beweisen versuchen, dass ein Kunstwerk – Naziverfolgung hin oder her – zu Recht erworben worden sei. Auf der anderen, der Museumsseite, ist die Sorge stark, unersetzliche Teile der eigenen Sammlung nach Jahrzehnten an von Anwälten angestachelte Erben zu verlieren und damit auch der Öffentlichkeit zu entziehen, der man verpflichtet ist. Die Restitution von Ludwig Kirchners »Berliner Straßenszene«, die das Schlüsselwerk des Expressionismus 2006 aus dem Brücke-Museum Berlin direkt in den Kunstmarkt und auf 30 Millionen Euro Auk-tionspreishöhe beförderte, nährte diese Sorge.
Weder das legalistische Prinzip, das in den 1960er Jahren aufgrund von Verjährungsfristen an sein Ende kam, noch das seit der »Washingtoner Erklärung« 1998 verabredete moralisch-politische Prinzip versprechen befriedigende Lösungen, wie derzeit der Fall Flechtheim zeigt.
ALLE KAUFTEN BEI IHM
Dem Kunsthändler Alfred Flechtheim, 1878 als Sohn einer jüdischen Münsteraner Getreidehändlerfamilie geboren,1937 als Vertriebener in London gestorben, widmen einSchweizer sowie 14 deutsche Museen, darunter sechs nordrhein-westfälische, jetzt das Gemeinschaftsprojekt »Alfred Flechtheim.com – Kunsthändler der Avantgarde.« Es gilt einem Verleger, Kunstsammler, -händler und -vermittler, der wie nur wenige außer ihm die heute klassisch genannte Moderne durchsetzen half. Anlass ist ein Jahrestag: Am 9. Oktober 1913 eröffnet Flechtheim seine erste Galerie in der Düsseldorfer Königsallee 34, Dependancen in Berlin, Frankfurt, Köln folgen. Drei Jahre später ist er Mitbegründer der legendären Kölner Sonderbundausstellung, die dem Publikum im Rheinland die Augen öffnet für Picasso, die Kubisten, die rheinischen Expressionisten: Künstler, deren Freund, Vermittler und Händler er im Westen und Norden Deutschlands wird. Nach dem Ersten Weltkrieg kommen die Surrealisten, Grosz und Klee, Beckmann, Kokoschka und viele andere hinzu.
Das Düsseldorfer Kunstmuseum beispielsweise (heute Museum Kunstpalast) erwirbt unter seinem damaligen Direktor Karl Koetschau über Flechtheims Galerie etwa 60 Kunstwerke, darunter solche von Lehmbruck, Degas, Maillol, Kokoschka, Kirchner, Rohlfs, Pechstein; 26 davon sind heute noch im Haus. Dortmund erhält 33 Arbeiten Flechtheim’scher Provenienz, wobei der Kunsthändler dem dortigen Museum die ersten Werke kostenlos überlässt; nach Köln gelangen 50 Werke aus Flechtheims Hand. Nach Berlin übersiedelt, gibt der Kunstbesessene (»eine Leidenschaft stärker als Alkohol und Weiber«, bekennt er) ab 1921 die Zeitschrift »Der Querschnitt« heraus, eine frühe Mischung aus Kunst und Lifestyle. Als er seinen 50. Geburtstag feiert, sind Gottfried Benn, Max Beckmann und Max Schmeling, Tilla Durieux und andere Stars unter den Gästen; Hemingway, Cocteau, Picasso, Renoir schicken Glückwünsche.
Fünf Jahre später, es ist 1933, schließen die Nazis eine Kunstauktion seiner Galerie, schon seit Jahren ist braune Hetze gegen den »Kunstjuden« ruchbar, die sich nun verstärkt. Flechtheim ist doppelt angreifbar: Als Jude und weil er das vertritt, was 1937 als »entartete Kunst« verfemt werden wird. »Flechtheim sah in Deutschland keine berufliche Perspektive mehr und musste Ende 1933 nach London emigrieren. Noch vorhandenen Kunstbesitz transferierte er ins Ausland (…). Im Oktober 1936 gelang ihm mit der Ausstellung ›Masters of French 19th Century Paintings‹ der Neubeginn in London. Doch im Winter stürzte Alfred Flechtheim bei Glatteis und am 9. März 1937 verstarb er im Alter von nur 59 Jahren.« Das sind die Worte, mit denen Alfred Flechtheims weiteres Schicksal auf der Website www.alfredflechtheim.com beschrieben wird, sie weist 324 Objekte von 89 Künstlern aus und ist der Hauptteil des musealen Gemeinschaftsprojekts. (In den Museen selbst werden sonst nur je ein paar der von Flechtheim stammenden Objekte gekennzeichnet.)
Diese Worte in ihrer beschönigenden Knappheit sind Ausdruck der Fühllosigkeit, mit der in Deutschland mit den Überlebenden des Holocausts sowie ihrem durch den Naziterror verlorenen Besitz umgegangen wurde. Viele Kunstmuseen hierzulande überschlugen sich nach dem Krieg, den Anschluss an die Moderne wiederzufinden und schauten nicht so genau hin, aus welchen Händen sie Kunstwerke erwarben. Wurden sie mit Restitutionsansprüchen konfrontiert, war das Lavieren einfach: Unter den Wirren erzwungener Ausreise oder Geschäftsliquidation litt als erstes die Buchführung; und war ein Notverkauf nicht auch ein Verkauf, also legal?
DIE WASHINGTONER ERKLÄRUNG
Dieser legalistischen Verfahrensweise wollten die »Washington Principles« ein Ende setzen. Darin erklärten sich Deutschland sowie 43 weitere Staaten bereit, während der Zeit des Nationalsozialismus beschlagnahmte Kunstwerke zu identifizieren, deren Vorkriegseigentümer oder Erben ausfindig zu machen und eine »gerechte und faire Lösung« zu finden – jenseits der Verjährungsfristen. Es wich der Rechts- dem moralischen Anspruch. Bund, Länder und Kommunen bestätigten dies ein Jahr später in einer »Berliner Erklärung«, in der der Begriff des »Beschlagnahmten« zum »verfolgungsbedingt Entzogenen« erweitert wurde. Sollte heißen: Von Verfolgten in der Nazizeit getätigte Verkäufe hatten als grundsätzlich unrechtmäßig zu gelten. Gebe es begründeten Verdacht für den Besitz von Raubkunst, solle das betreffende Museum seinerseits die Rechtmäßigkeit des Erwerbs beweisen. Für Streitfälle wurde eine Schiedsstelle eingerichtet, die (nach der ehemaligen Präsidentin des Bundesverfassungsgerichtes benannte) Limbach-Kommission.
Doch mit diesem Schwarzen Peter der Beweisumkehr auf der Hand wussten die Museen geschickt weiter zu spielen. Zwar wurden jetzt Stellen für Provenienzforschung in vielen Häusern eingerichtet – etwas, was seit 50 Jahren überfällig war –, aber nur befristet für ein halbes oder ein Jahr. Woher sollte auch das Geld kommen? Provenienzforschung ist mühsam, Provenienzforschung dauert; die Erben aber altern.
Auch die Alfred Flechtheims. Es sind dies sein in USA lebender Großneffe Michael Hulton, 67, Sohn von Flechtheims ebenfalls 1933 nach London emigriertem Neffen und Alleinerben Heinz-Alfred Hulisch (als naturalisierter Brite Henry-Alfred Hulton), sowie dessen zweite Frau Penny Rose Hulton, 86. Alfred Flechtheim und seine (aus Dortmund stammende) Frau Bertha waren selbst kinderlos. Die Familie Hulton hat seit 2008 eigene Forschungen zum Schicksal der Sammlung Flechtheim angestellt, deren Umfang Hultons Anwalt Markus Stötzel mit »an die 200 Werke« beziffert; Alfred Flechtheims Biograf Ottfried Dascher hat an die 300 Werke identifiziert, die Flechtheim gehörten. Da dieser alleiniger Gesellschafter seiner Galerien-GmbH war, ist die Trennung zwischen Privatsammlung und Geschäftsbesitz obsolet, es erhebt sich lediglich die Frage, ob einige Werke, die sich jetzt in deutschen Museen befinden, der Galerie Flechtheim nur in Kommission anvertraut waren, wie wohl im Fall der Bilder Paul Klees aus der Kunstsammlung NRW. Auf einen Klee (sowie einen Juan Gris) aus Düsseldorf aber erheben die Erben Anspruch. Ebensolche Forderungen richten sie gegen sechs Arbeiten Max Beckmanns in den Bayerischen Staatsgemäldesammlungen; da die Münchner in dem jetzigen Flechtheim-Projekt federführend sind, aber 2010 die Verhandlungen mit den Flechtheim-Erben abbrachen, sieht sich Michael Hulton düpiert und außerstande, dem Projekt »Alfred Flechtheim.com« beizutreten, das zudem ohne sein Wissen initiiert worden sei. Er hat daher eine eigene Website mit den Namen www.flechtheim.org geschaltet.
EIN SANDKASTENSTREIT?
Die beiden Staatsmuseen in Düsseldorf und München auf der einen, die Erben auf der anderen Seite werfen sich gegenseitig Dialogverweigerung und Zurückweisung der Zusammenarbeit vor, die Anschuldigungen beider Parteien sind pauschal, Antworten auf konkrete Fragen der Presse ausweichend. Das wirkt wie Sandkastenstreit; tatsächlich aber ist die verletzende Verhandlungsatmosphäre, die Michael Hulton beklagt, nachvollziehbar, wenn man sieht, dass auf der dem Verdienst Flechtheims ausdrücklich gewidmeten und »größtmögliche Transparenz« (Julian Heynen von K20/K21) anstrebenden Flechtheim-Website beispielsweise die Mischtechnik »Federpflanze« von Paul Klee in ihrer Provenienz genau beschrieben wird, aber unerwähnt bleibt, dass gegen das 1961 von der Kunstsammlung NRW erworbene Werk Restitutionsforderungen bestehen.
Ebenso steht es mit den anderen elf Zweifelsfällen: Sie werden verschwiegen. »Wir können keine Sternchen an die Werke machen, um Problemfälle zu zeigen«, ist die Erklärung der Projektleiterin Andrea Bambi vom Referat für Provenienzforschung der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen. Wie fühllos ist das? Und: Was sonst noch wird unterschlagen? Dem Geist der Washingtoner Erklärung entspricht es jedenfalls nicht, so wenig wie die (oben zitierten) Worte über Alfred Flechtheims Exil, die eine erfolgreiche Geschäftsfortführung in London suggerieren. Ottfried Dascher hat herausgefunden, dass Flechtheim zwar viele wertvolle Bilder aus seinem Besitz mit Hilfe seines Galeristenfreundes Henry Kahnweiler aus Deutschland retten konnte. Ebenso aber bestätigt er: »Alfred Flechtheim war als Händler in London nicht erfolgreich«. Bertha Flechtheim übrigens nahm sich 1941 aus Angst vor der Deportation das Leben. Die Kunstschätze aus ihrer Berliner Wohnung wurden beschlagnahmt und sind verschollen.
Im Juni gab das Kölner Museum Ludwig Oskar Kokoschkas »Bildnis der Schauspielerin Tilla Durieux« an die Flechtheim-Erben zurück – auf Empfehlung der Limbach-Kommission, die anzurufen die mit Restitutionsforderungen konfrontierten deutschen Museen scheuen wie der Teufel das Weihwasser. Ist doch gegen deren autoritativen Spruch kein Einwand und kein Zeitschinden mehr denkbar. »In absehbarer Zeit wollen wir zu einem Ergebnis kommen«, verspricht Julian Heynen jetzt. Das wäre schön, aber neu; bisher vertröstete die Kunstsammlung NRW die Erben mit der Notwendigkeit immer neuer Forschungen, von denen nicht offengelegt wird, wie intensiv sie sind. Der Klee und der Gris gehören dem Land; vielleicht versteht Kulturministerin Ute Schäfer besser, was die Washingtoner Erklärung meint: nicht Recht, sondern Gerechtigkeit. Wiedergutmachung der Würde vernichteter Familien.
Kokoschkas »Durieux«, verspricht Michael Hulton, soll Teil der Flechtheim-Sammlung werden, die die Erben zu rekonstruieren versuchen und zu deren Aufbau und Erhalt sie eine Stiftung gründen. Verständlich, dass sie die Kollektion gern möglichst umfangreich hätten, denn wäre Alfred Flechtheim nicht verfolgt worden, trüge gewiss heute ein Museum seinen Namen. Dass eine »gerechte und faire Lösung« aber nicht unbedingt Rückgabe heißen muss, zeigt der Fall Bonn: Das dortige Kunstmuseum traf 2012 mit den Flechtheim-Erben im Fall eines Gemäldes von Paul Adolf Seehaus eine gütliche Übereinkunft; gegen eine Entschädigung blieb das Bild am Rhein.
Präsentationen der Flechtheim-Provenienzen bis Anfang 2014 im Kunstmuseum Bonn, Museum für Kunst und Kulturgeschichte Dortmund, Museum Kunstpalast Düsseldorf, K20 Düsseldorf, Westf. Landesmuseum Münster. Die Museen Köln nehmen nur mit ihrer Stelle für Provenienzforschung teil. www.alfredflechtheim.com + www.flechtheim.org
Ottfried Dascher: »›Es ist was Wahnsinniges mit der Kunst‹. Alfred Flechtheim. Sammler, Kunsthändler, Verleger«; Nimbus Verlag Zürich, 2013, 512 S., 28 Euro