Die Zeit der Reife sei erreicht, behaupteten im Mai 2005 vier deutschsprachige Schrift steller und appellierten – durchaus selbstkritisch – an ihre gleichaltrigen Kollegen, sich ins Zentrum der Gesellschaft vorzuschreiben. Biographisch eingeklemmt zwischen den »Emanzipierten um jeden Preis« und den »Dienstleistern gestriegelter Popliteratur«, wagten sich die zwischen 1955 und 1964 Geboren mit einem »gemeinschaft – lichen Positionspapier« vor. Darin forderten sie, dass der Schrift steller nun endlich »Zeitgenossenschaft aus der Mitte seiner Generation heraus« zu betreiben habe. Die Reparaturarbeiten an der reichlich morschen Brücke zwischen Moral und Ästhetik sollten endlich beginnen. Denn die Welt sei »unheimlich« geworden, ihre Bewohnbarkeit beizubehalten und zu erschließen Aufgabe der Romanciers. Dieses Bauvorhaben trug in der Blaupause den Titel »Relevanter Realismus«. Zu den Unterzeichnern gehörte auch Th omas Hettche, der sich bis dato als Fürsprecher einer derartig engagierten Literatur eher zurückgehalten hatte.
Sein neuer Roman »Woraus wir gemacht sind«, mit dem er es auf die diesjährige Longlist des Deutschen Buchpreises geschafft hat, unterzieht die Tragfähigkeit dieser Konstruktion nun einem ersten großen praktischen Belastungstest. Ähnlich wie schon in »Der Fall Arbogast«, seinem letzten Buch, greift Hettche dabei mit sicherem Gefühl für Spannungsbögen auf Versatzstücke des Kriminalromans zurück: Genau ein Jahr nach dem Anschlag auf das World Trade Center fliegen der Biograph Niklas Kalf und seine schwangere Frau Liz nach New York ein. Kalf soll von dort nach einer Lesung weiterreisen, um in Los Angeles das Leben des Physikers Eugen Meerkaz zu recherchieren, der vor den Nazis nach Kalifornien geflohen war. Am nächsten Morgen nach der Lesung ist Liz verschwunden. Dafür überträgt der Hotelfernseher George Bushs Ansprache vor den Vereinten Nationen: »We must choose between a world of fear and a world of progress«. Während die Welt auf den bevorstehenden Irak-Krieg vorbereitet wird, setzt eine sanfte Stimme Kalf am Telefon von der Entführung seiner Frau in Kenntnis: »Alles hängt von dir ab.«
Durch solche Parallelmontagen führt Hettche immer wieder raffi niert den persönlichen Schicksalsschlag Kalfs mit der Aufarbeitung des weltpolitischen Traumas zusammen. Dabei ist die als road movie angelegte Geschichte, die Kalf von New York aus über Texas bezeichnenderweise in die Filmhauptstadt L.A. und dort in den Keller eines ehemaligen Kinos führt, eine überaus suggestive Vermessung der imaginären Grenze zwischen alter und neuer Welt, eine anspielungsreiche Reise ins Innere der Mythen- und Sehnsuchtsmaschine USA. Dass deren Kulturexporte mit der Realität seiner Kindheit nicht in Einklang zu bringen waren, lässt Kalf darüber sinnieren, »ob sich vielleicht deshalb seine Generation inmitten all dieser schlechten Kopien so sehr auf die Welt als ästhetische kapriziert hatte. Um die Diff erenz zu verstehen, die das eigene Leben für immer von den Bildern aus dem Zentrum des Imperiums trennte.« Je näher Kalf aber dem vermeintlichen Ursprung der moralischen Impotenz seiner Generation kommt, desto gleichgültiger wird er dem Schicksal Liz’ gegenüber. Regelmäßig erhält er über das Internet Bilder seiner offensichtlich leidenden Frau. Kalf aber verliert sich in der menschenleeren Weite Texas’ und gibt sich dort der Faszination historischer Schwerelosigkeit hin. So verbringt er Wochen in einem kleinen Kaff an der mexikanischen Grenze, richtet sich in seiner Hilfl osigkeit ein. Er betrügt Liz und ist selbst überrascht, wie sehr er sich in dem fremden Land zuhause fühlt, während sich das Prinzip Verantwortung nur gelegentlich als schlechtes Gewissen bemerkbar macht.
Ist das nun tatsächlich die erste große Probe auf die Relevanz des »relevanten Realismus «? Festzuhalten bleibt, dass Hettche mit gewohnt eleganter Detailversessenheit glücklicherweise mehr Fragen aufwirft , als er beantwortet. »Woraus wir gemacht sind« ist viel zu klug gebaut, als dass sich aus dem Roman eindeutige Positionen herauslesen ließen. Allein die Liebe wird hier mit einem kaum für möglich gehaltenen Pathos beschworen. So verarbeitet der Roman eine existentielle und überaus zeitgenössische Krisenerfahrung: nicht vorbereitet zu sein, wenn die Wirklichkeit über Nacht real wird. //
Thomas Hettche: Woraus wir gemacht sind. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2006, 320 S., 19,90 €