QUIZ MIT KASPAR
Peter Handkes Einübung in den Sprechakt in Bonn
Kaspar geht keinem mehr auf den Keks. Im Gegenteil. Kekse werden ans Publikum verteilt. Kaspar-Kekse nebst Sekt und guter Laune. Eine Werbeveranstaltung: Nehmen Sie Kontakt zu Kaspar auf, dem seltsamen Jungen, der anders war und gleich gemacht wird – durch »Sprechfolterung«, wie sein Autor Peter Handke es nennt. Einübung, Einfügung, Einordnung, darum geht es. Aber nur nicht bitter werden. Den Kaspar von 1968, entstanden sehr frei nach dem legendären Findelkind Kaspar Hauser, gibt es nicht mehr. Ideologische Konflikte sind out. Das rigide rationale System, das Kaspar abrichtet, verhält sich geschmeidig und allumarmend. Kaspar: ein Fall fürs Fernsehen, für irgendeine Verzeih mir-, Game-, Talk- oder Quizshow.
Wenn Kaspar in der Werkstatt des Theaters Bonn zu Anfang seinen Satz »Ich möcht ein solcher werden wie einmal ein anderer gewesen ist« repetiert, betont er das letzte Wort: »ist« und begleitet es mit auffordernden Bewegungen an die Zuschauertribüne zur Herstellung von Kommunika-tion und Austausch. Keine Publikumsbeschimpfung mehr, sondern Animation. Der Unterhaltungsbetrieb in Gestalt dieses halbtragischen Entertainers (Hendrik Richter) kennt Ich-Suche nur noch als bloßen Refrain.
Gekleidet wie für eine Revue, sind Kaspars drei »Ein- sager«, die ihn konform machen und ins Glied rücken, charmant fröhliche Eintänzer (Anastasia Gubareva, Nina V. Vodop’yanova, Nikolai Plath), die rhythmisch mit den Fingern schnippen, Blumen in Zellophan reichen und ihren Lehrspruch »Merken und nicht vergessen« sanft säuseln. Der Zwangsapparat ist – intelligent, spielerisch, beweg- lich, ohne Ballaststoffe und doch durchtrieben schmerzempfindlich inszeniert von Alexander Riemenschneider – zum Reality-Varieté geworden. In Kulissen, die die Wandverkleidungen des Spielraums fotografisch verdoppeln und mit ihnen die Darsteller umstellen.
Kaspar als Massenphänomen: ein herunter demokratisierter Konsument und vereinnahmter Komplize kultureller Entwicklungsprozesse gegen das öffentlich rechtliche Ich. Individuation reckt sich nur noch zur beklatschten Popstar-Pose auf und stimmt mit Gloria Gaynor die Hymne ausgehöhlter Selbstbehauptung an: I am what I am. Showtime und Lifestyle-Coaching für Kaspar, während ihm das Blut von den Lippen tropft und seine perfekte Rede im verklemmten Stammeln und schwitzender Tortur endet. | AWI
DURCHGEPLUMPST
Köln I: »Die Kunst des Fallens« uraufgeführt
Mutter, zwei Töchter, Vater abgehauen: das kommt öfters vor. Mutter ist Wirtin, Töchter helfen, auch das gibt es. Geschwister geraten meist ungleich, hier auch: Seffi (!) ist handfest und geradeaus, Sigrid nicht recht greifbar, seelisch fragil und darum die ideale magnetische Leerstelle, von der sich alle Männer im Biergarten »Felsenschenke« angezogen fühlen. Solche Frauen gibt es und solche Männer sowieso, und die ganze Konstellation ist auch literarisch gut begründet, zum Beispiel bei Horváth, mutatis mutandis. Dennoch hat Christoph Nußbaumeder sie in seinem jüngsten Stück »Die Kunst des Fallens« erneut ausbuchstabiert, ohne sie recht eigentlich ins Heute zu übertragen. Und so kommt eine ordentliche, psychologisch nicht immer stimmige, aber vor allem irgendwie gestrige Geschichte dabei heraus: Schon Ort und Zeit, Biergarten und Sommersonnenwende, gießen mächtig Sepia aus. Ordentlich ist auch die Inszenierung Katja Laukens, die in der Kölner Nebenspielstätte Halle Kalk mit antinaturalistischer Spielweise tapfer gegen den drohenden Gilb anspielen lässt. Hauptproblem aber ist der Magnet im Zentrum des Stücks: Er ist schlichtes Eisen. Nora von Waldstätten spielt die Sigrid als eine lediglich Spröde, Gereizte, der man die vereinzelten Spielereien mit Femme-fatale-Allüren nicht glaubt. Und schon gar nicht, dass gestandene Männer ihr verfallen. Mit denen lässt sie sich ein, ohne sich fallen zu lassen – auch wie dies vor sich geht, bleibt ein Rätsel, weil es dramatisch nicht entwickelt wird; eine Schwäche des Stücks. Dem am Schluss auch nur einfällt, einen der Verehrer sterben, die andern weggehen (zur Bundeswehr etwa, grotesk!) und den Biergarten schließen zu lassen. | UDE
ENTERTAINING MR SIGISMUND
Köln II: Jürgen Kruse mit Calderóns »Das Leben ein Traum«
Der Regisseur schickt seinen eigenen Kommentar gleich hinterdrein. Ein Stücktitel bedeutet auch nur eine Phrase im unaufhörlichen Gespräch, Note in einer unendlichen Melodie. Am Kölner Schauspielhaus inszeniert Jürgen Kruse ein Drama, dessen Name alle seine Arbeiten beschreibt: »Das Leben ein Traum« von Calderón de la Barca aus dem spanischen 17. Jahrhundert. Klammernd, kalauernd, konstatierend setzt er hinter den Titel ein »(was sonst?)«. Soll heißen: Ist doch klar. Gibt’s überhaupt etwas anderes als Einbildungskraft, bei der objektive Realität und subjektives Empfinden variable Masse sind? Der Puls verändert sich, der Kopf schwebt in den Wolken.
Die verlorenen Jungen und barocken Boxenluder, die sich an der Rampe versammeln, sehen aus wie Piraten der Karibik oder die wiedererstandenen Les Humphries Singers (Kostüme Sebastian Ellrich). Sie gammeln über die Bühne (Franz Koppendorfer) wie durch eine Requisiten-, Kuriositäten- und Rumpelkammer mit etlichen Devotionalien. Jeder folgt seinen Verrichtungen, liest, trinkt, raucht, fächert, singsangt, zitiert und rezitiert. Die High-Night dauert – insgesamt vier Stunden.
Der Sohn wurde radikal weggesperrt, nachdem ein Horoskop seinem Vater, König Basilius von Polen (Hartmut Stanke), in Aussicht gestellt hat, dass aus dem Prinzen einst ein grausamer Herrscher werden und das Land zerreißen würde. Basilius indes hegt Zweifel, ob er richtig gehandelt habe, und beschließt, Sigismund zu testen. In Schlaf versetzt, wird er in den Palast verbracht; als er erwacht, ist er Herr im Haus: Polens Zukunft. Die er fahrlässig verspielt, so dass er zurück muss, das Erlebte als bloßen Traum begreifen soll – und aus Erfahrung klug wird. Die Bestie aber konnte überhaupt erst dadurch geweckt werden, dass sie zum Untier herangezüchtet worden war.
Ein schiefer Turm von Polen lehnt an einem Gerüst mit Reling. Drin haust und kraxelt Sigismund: Spargeltarzan und Robinson Crusoe. Jan-Peter Kampwirth wird eine Menge Rollen ausprobieren, bis Sigismund zum krisenerfahrenen Ich-Manager, neurotischen Komiker, Untergangs-Virtuosen und Entertainer der eigenen Geschichte eines Experiments wird, der (wie sein Darsteller) souverän Distanzen einzieht und mit Pokerface das Allegorische ins Ironische transformiert.
Sigismund sings the Blues. Kruses Session legt über das Versdrama eine zweite Partitur, immer wieder arretiert von Songs, aphoristischen Headlines und Fußnoten und wechselnd zwischen Emphase, Entrückung und enervierendem Da capo. Der barocke Vanitas-Gedanke wandelt sich bei dem schummrigen Happening in die Rock’n’Roll-Erfahrung, dass oft vor den Vätern die Söhne sterben. Weshalb vielleicht Michael Weber den feixenden Gefangenenwächter Clotaldo spielt, als sei die Inszenierung nicht Peter Stein und Sigmar Polke gewidmet, sondern eher Dennis Hopper. | AWI
FLORENZ SEHEN UND STERBEN
Zwei Einakter von Zemlinsky und Puccini in Wuppertal
Von Giacomo Puccini wird gern behauptet, er sei das Überbleibsel der melodienseligen italienischen Oper und in seiner süffigen Kulinarik schon zu Lebzeiten überholt gewesen. Dass man Puccini auch anders hören kann, beweist am Wuppertaler Opernhaus die Gegenüberstellung seines Einakters »Gianni Schicchi« mit Alexander Zemlinskys nahezu zeitgleich entstandener Kurzoper »Eine florentinische Tragödie«. Puccinis böse Komödie um Geiz und Erbschleicherei in einer Familie sieht man sonst gewöhnlich als Satyrspiel im Dreierpack »Il Trittico« des Komponisten. In der Kombination mit Zemlinsky aber schlägt sie neue Funken.
Beide Werke spielen in Florenz, da lag es nahe, dass Regisseur Johannes Weigand in seiner schnörkellosen Regie Gemeinsamkeiten schon optisch betont. Moritz Nitsches Einheitsbühne zeigt das karge Innere eines Renaissance-Palazzos, drapiert mit den Komplementärfarben schwarz (Zemlinsky) und weiß (Puccini). Ein Dreieck ragt in den Zuschauerraum und lässt die Leiche des Guido Bardi aus der »Tragödie« zurück. Am Beginn von »Gianni Schicchi« liegt dort wieder ein Toter: der soeben verstorbene Erbonkel Buoso.
Ein Bindeglied stellt auch die illusionslose Amoral her. Bei Zemlinsky betrügt Bianca ihren Mann Simone mit dem Adeligen Bardi. Als der Gehörnte das Paar in flagranti erwischt, lässt er sich nichts anmerken und bewirtet den Nebenbuhler scheinbar freundlich, bevor er ihn erwürgt. Angesichts des brutalen Mördergatten entdeckt Bianca dessen erotische Attraktivität aufs Neue. Bei Puccini wird der verblichene Onkel, der alles dem Klerus vermachen wollte, kurzerhand entsorgt und durch ein lebendes Double (Schicchi) ersetzt, um das Testament im Sinne der Erben zu ändern.
Gesungen wird auf hohem Niveau. Erstaunlich an dem Abend ist vor allem, wie Zemlinskys spätromantisch schwüle Sinnlichkeit, die sich bereits auf dem Weg zu Schönberg befindet, unter Hilary Griffiths kundiger Leitung die Ohren schärft für Puccinis keineswegs nur im Schönklang schwelgende Komplexität und Raffinesse. | REM