// Im nächsten Jahr begehen wir den 80. Jahrestag der Weltwirtschaftskrise. Am 24. Oktober 1929, dem sogenannten Black Thursday – in Europa wegen der Zeitverschiebung »Schwarzer Freitag« genannt –, brach der US-amerikanische Aktienmarkt zusammen, woraufhin bekanntlich auch europäische Volkswirtschaften in eine schwere Depression gerieten. So wie es derzeit aussieht, wird 2009 genügend Anschauungsmaterial liefern, wenn es darum geht, dieses Jubiläum gebührend zu würdigen: mit einer Krisen-Neuauflage.
Wäre nicht bekannt, dass der amerikanische Comic-Autor Jason Lutes äußerst langsam arbeitet, ließe sich vermuten, dass auch er Kapital aus der Krisen-Konjunktur schlagen möchte. Doch der 1967 in New Jersey geborene Zeichner strichelt seit nunmehr zwölf Jahren an einer auf drei Bände angelegten »graphic novel« über das Berlin Ende der 1920er, Anfang der 1930er Jahre. Dennoch fügen sich die bisher auf Deutsch erschienenen Bücher »Steinerne Stadt« und »Bleierne Stadt« so grandios in das bevorstehende rezessive »Gedenkjahr«, als wären sie eigens dafür angefertigt worden.
Arbeitet sich Lutes im ersten Teil der Trilogie in acht Abschnitten von September 1928 bis zum 1. Mai 1929 durch die deutsche Geschichte, tastet er sich in »Bleierne Stadt« streng chronologisch und wiederum in acht Kapiteln bis zum August 1930 vor. Im Januar 1933 möchte Lutes den Comic-Roman dann irgendwann enden lassen. Mit geradezu Döblinschem Sensorium und feinem, sparsam eingesetztem Strich fängt er ein, was in der Endzeit der Weimarer Republik in der Berliner Luft liegt: den über den Stammtischen hängenden anti-demokratischen Dunst genauso wie die elektrisierenden Schwingungen in den Jazz-Clubs.
Während sich auf den Straßen der extremistische Mob austobt, findet sich die Haute-Volée in exklusiven Etablissements zu erotischen Verausgabungen ein. Mitten drin: die ehemalige Kunststudentin Marthe Müller und der Journalist Kurt Severing, den Lutes mit seinen Essays Carl von Ossietzkys »Weltbühne« bespielen lässt. Doch Severing tippt nicht nur gegen den sich immer deutlicher abzeichnenden politischen System-Zusammenbruch an, sondern zunehmend auch gegen die eigene Schreibblockade.
Lutes »Berlin« ist nicht nur Ort des politischen Zeitensturzes, sondern gleichermaßen auch der Schauplatz persönlicher Instabilitäten, amouröser Verstrickungen und sexueller Neufindungen. Mit bemerkenswerter Souveränität setzt Lutes so ein historisches, mit den Mitteln der Fiktion verschwenderisch ausgemaltes Breitwandpanorama aus vielen kleinen Bildern zusammen. Dabei hat er die realen Geschehnisse dieser ereignisreichen Jahre dramaturgisch jederzeit virtuos im Griff, so dass sich die in viele Einzelschicksale aufgelöste Historie am Ende viel epischer anfühlt, als es die gerade mal 200 Seiten vermuten lassen.
Am Ende von »Bleierne Stadt« sehen wir die uniformierten Abgeordneten der NSDAP nach ihrem erdrutschartigen Sieg bei den Wahlen im September 1930 auf den Bänken des Reichstags Platz nehmen. »Wohin steuert diese Republik?«, fragt auf der letzten Seite eine bange Radiostimme in den Äther. Davor reckt Friedrich Drakes bronzene Viktoria auf der Siegessäule den Lorbeerkranz in den wolkenlosen Himmel. Ganz klein, kaum mehr sichtbar zeichnet sich in der Ferne eine Propellermaschine ab. Darin sitzt eine Nachtclub-Tänzerin mit ihrem Jazzmusiker auf dem Weg nach Paris. Eine Flucht ist das noch nicht, denn die gewaltigen Zeiten stehen Berlin noch bevor. Aber es ist wohl ein letzter Moment politisch unbeschwerter Privatheit. Fortsetzung folgt – ein amerikanisches Happy End für diese deutsche Geschichte wohl nicht. //
Jason Lutes: Berlin – Bleierne Stadt. Carlsen Verlag, Hamburg 2008, 214 Seiten, 14 Euro