TEXT: ANDREAS WILINK
Um zu erkennen, dass Jay Gatsby »ein Spiegel der amerikanischen Seele« ist, muss man nicht den Schriftseller Jay McInerney zitieren. F. Scott Fitzgeralds Held ist ein Mann mit dem Lächeln des Erfolgs, hinter dem die Grimasse des Scheiterns durchscheint; eine Persönlichkeit, die sich als »ungebrochene Serie erfolgreicher Gesten« darstellt, wie es der Erzähler Nick Carraway sagt. Der Börsenhändler beobachtet ihn von seinem bescheidenen Nachbargrundstück aus und gewinnt ihn zum Freund. Gatsby, das ist der Idealismus und die Romantik als Neurose, der Traum, sich selbst neu zu erschaffen, die etwas vulgäre Attitüde des Yankees und sein Minderwertigkeitskomplex, das Spenden von Überfluss, Verschwenden von Begabung, Aufkaufen der Welt – und das blutige Ende.
Baz Luhrmanns Neuverfilmung des Romans von 1925 verdoppelt die Neurose, indem ein psychisch zerrütteter Carraway (naiv großäugig: Tobey Maguire) im Sanatorium zu Therapie-Zwecken Gatsbys Geschichte niederschreibt, um sich von ihr zu befreien. Am Ende haben wir das fertige Manuskript. Das erste, was wie von Gatsby sehen, ist sein märchenhaftes Haus auf Long Island im eklektizistischen Stil eines Loire-Schlosses. Es steigt aus Nebeln wie Xanadu. So wie Gatsby ja auch ein Vorbild wurde für Citizen Kane – und Leonardo DiCaprio hier dem jungen Orson Welles gleicht und überhaupt seine erste wirklich erwachsene Rolle (Scorsese möge verzeihen) in seiner melancholisch-kindlichen Geschmeidigkeit ganz ausgezeichnet spielt. Fitzgerald lässt Gatsby zunächst in den Gerüchten über ihn entstehen, bevor der Leser ihm begegnet. So auch Luhrmann, der ihn mit den Augen Carraways zeigt, am Bootssteg auf die andere Seite der Bucht schauend, wo seine ferne Liebe, das Golden Girl Daisy (Carey Mulligan), lebt, verwöhnte Society-Blüte und Ehefrau des fiesen reichen Ostküsten-Aristokraten Tom Buchanan (Joel Edgerton) und zudem Kusine des armen Nick Carraway.
Die erste Stunde inszeniert Luhrmann als knalliges Gatsby-Musical, exaltierter als Busby Berkeley es vermocht hätte; ab und an untermischt von Gershwins »Rhapsody in Blue«. Eine permanent ansteigende Sensationskurve und Überbietungsdramaturgie: der Rausch der Roaring Twenties, Sturzflüge in die Schluchten von Manhattan, Ornamente der Masse, Revuen, Raserei des Amüsements, Party-Pop. Willkommen in Freizeitpark Amerika. Die Antwort des Films auf Fitzgeralds rhythmische, transparente Prosa gibt die 3D-Technik. Mit ihr erscheint Tiefenwirkung nur vorgeschoben und die Figuren vordergründig: Schablonen ihrer Leidenschaften – Liebesbetrug (Buchanan hat eine Mätresse aus dem Arbeiterviertel, die durch einen Autounfall stirbt, den Daisy verschuldet, aber Gatsby auf sich nimmt), Verrat, Trägheit des Herzens, Eifersucht sowie Anstiftung zum Mord. Baz Luhrmann hat manches richtig gemacht, auch wenn einen das schreiend Laute und Bunte stört. Das Wichtigste aber fehlt. Das Gefühl für Endlichkeit und Vergeblichkeit, das Fitzgerald in seinem berühmten Schlusssatz zusammenfasst: »So rudern wir weiter gegen den Strom, unaufhörlich der Vergangenheit entgegen.«.
»Der große Gatsby«; Regie: Baz Luhrmann; Darsteller: Leonardo DiCaprio; Tobey Maguire, Carey Mulligan, Joel Edgerton; USA 2013; 144 Min.; soeben angelaufen.