In der Schlüsselszene der Oper stellen sich schon beim bloßen Zuhören wohlig die Nackenhaare auf. Man denke sich das schummerige, wohl auch leicht schmuddelige Laboratorium eines achtzigjährigen, gichtigen Alchimisten in Paris. Zwei Männer liegen in Trance wie tot am Boden, dicht nebeneinander, und sie könnten unterschiedlicher nicht sein. Octave de Saville, der eine, ist ein verzärtelter, dazu liebeskranker Galan, den das krankhafte Anschmachten einer polnischen Grä n depressiv gemacht hat. Graf Karol Czosnowski dagegen, der andere, ist der treue Gatte eben jenes Wunderweibs und eigentlich von kernig tatkräftigem Wesen. Nun aber liegt der Machtmensch willenlos neben Octave und wird das Opfer einer gruseligen Prozedur. Mysteriöse Bläserklänge, das leise Stöhnen eines Akkordeons und das Sirren von angeriebenen Weingläsern füllen die Atmosphäre, wenn der alte Magier Cherbonneau auf Krücken herbeiwankt. Seltsam greise Laute entfahren seinen abgestorbenen Lippen; zu tropfenden Klavierakzenten berührt er beide Körper gleichzeitig und setzt damit den Tausch zweier Seelen in Gang. Der Alchimist versteht sein Handwerk, das Experiment gelingt: Im kräftigen Körper des polnischen Grafen kann sich Octave der Angebeteten künftig unverdächtig nähern, während Karol sich in einer fremden Wohnung mit fremden Dienern herumschlagen wird. Bis sich die beiden eines Tages wieder begegnen … Der Schauder legt sich, der literarhistorische Verstand kehrt zurück. Mary Shelleys Frankenstein lässt grüßen, Edgar Allan Poe natürlich, E.T.A. Hofmann und seine französischen Nachfolger und Übersteigerer. Dazu gehörte auch Théophile Gautier, der genialische Romancier, Essayist, Abenteurer und Diener vieler Herren (und Frauen).
Gautier machte die Seelenwanderung zum Titel einer Erzählung von 1856, denn »Avatar« meint im Sanskrit die diversen Inkarnationen des Gottes Vishnu, der sich von Zeit zu Zeit menschlichen Leibern anvertraute. Aber es gibt neben der »Wandlung« noch eine weitere Bedeutung des Begriffs »avatar« im französischen Sprachgebrauch, die den Schweizer Komponisten Roland Moser vor allem interessierte – das Moment des Scheiterns, der Fehlschlag, die missglückte Neuerung. Was dem geglückten Experiment in Gautiers Erzählung und Mosers Oper folgt, ist nämlich eine Chronik grotesker Missverständnisse.
Natürlich versteht Octave im Körper des Grafen kein Polnisch und hinterlässt bei der Grä n verständliche Irritationen; aus dem Tête-à-tête im Boudoir wird nichts. Ein Duell der Protagonisten scheitert – wer schießt schon gern auf sich selbst? –, und so lassen sich die Kontrahenten wieder zurückverwandeln. Am Ende pro tiert nur der gerissene Magier von dem Quidproquo, das ihm körperliche Verjüngung und das Vermögen von Octave beschert. Zumindest für Cherbonneau war das Menschenexperiment kein Avatar.
Seelenwanderung, Magnetismus, Thaumaturgie – was mag einen Komponisten von heute an den Untiefen der Schauerromantik faszinieren? Immerhin steht der 1943 in Bern geborene Roland Moser mit seinem Faible für die doppelbödige Romantik durchaus nicht allein: Die Begeisterung seines Landsmanns Heinz Holliger für das Spätwerk von Hölderlin und Schumann, aber auch jüngere Opern wie die 2004 uraufgeführte »Berenice« von Johannes Maria Staud nach Poes Erzählung zeugen von einer anhaltenden Beschäftigung mit dem gespaltenen Ich der Moderne durch die Brille des 19. Jahrhunderts. Immer wieder ist Moser auf die Säulenheiligen der literarischen Romantik zurückgekommen – vor allem in seinen Liederzyklen nach Texten von Heine, Hölderlin, Brentano und Liedern aus der Sammlung »Des Knaben Wunderhorn«. theatralisches spielte schon in den verschiedenen Versionen der Heinelieder eine Rolle: Neben den musikalischen Interpreten (Sopran und Klavier) agiert ein Schauspieler in der Rolle des Dichters Harry Heine, der in fünf Kapiteln seine eigene Biogra e bis zum Ende in der »Matratzengruft« nacherlebt.
»Das waren meine Berührungen zum Grenzbereich Musiktheater«, resümiert Moser in seinem Zimmer der Basler Musik-Akademie, wo er seit 1984 Komposition unterrichtet. »Klar ist: Für mich ist Text zentral.
Da unterscheide ich mich von etlichen Kollegen. In ›Avatar‹ ist der Text durchgehend verständlich – das war eine meiner Motivationen, überhaupt eine Oper zu schreiben. Ich wollte her unterkommen von diesen Sprüngen und Brüchen und darauf achten, dass das Wort wirklich lebendig wird in der Musik, vernehmbar mit seinem Inhalt.« Weil Moser der komplexen Verrätselung und dramaturgischen Labyrinthe im Musiktheater misstraut, hat er in seiner bislang einzigen Oper auf Klarheit der Handlung und absolute Textverständlichkeit gesetzt. Was ihn nicht hinderte, im selbst verfassten Libretto die Gautier-Erzählung mit Gedichten des polnischen Emigranten Adam Mickiewicz, Wunderhorn- Liedern, Kinderreimen oder Fragmenten aus Heines Testament zu einem ein anspielungsreiches Netzwerk zu verknüpfen.
Ähnlich mehrdeutig ist die Partitur angelegt. Zwei der sechs Bilder basieren auf Klavierstücken von Fryderyk Chopin, die Moser nicht zitiert, sondern »auslöscht«, indem er bis auf rhythmische Fragmente nur die harmonische Struktur erhält und neu komponiert – gleich einem mehrfach überschriebenen Palimpsest. Im Übrigen herrscht das begleitete Rezitativ vor; das ohnehin klein besetzte Orchester wird o bis auf Einzellinien und san e auratische Klänge ausgedünnt, die sich den gesungenen Text wie magnetische Schwingungen umgeben und enervieren. In vielen Momenten erinnert die Präsenz der Figuren, aber auch die klangliche Delikatesse der Begleitung mit Harfe, Akkordeon oder solistischen Streichern an Henzes Opern-Kammerspiel »Elegie für junge Liebende«. Doch Moser geht weiter, indem er Handlung und Musik das Henze-Fleisch von den Rippen schneidet und skelettiert. »Avatar« ist eine Musik wie unter Drogen: eine zweistündige Traumstudie, deren Personen verlangsamt, wie hinter Milchglas agieren, auch wenn sie sich zuweilen höchst unkontrolliert erregen.
Ob die Uraufführung am Theater St. Gallen im Mai 2003 in der Regie des damaligen Schauspieldirektors Peter Schweiger diese Tendenz zur Entmaterialisierung wirklich traf, bleibt angesichts der Szenenbilder fraglich. Für die deutsche Erstau ührung am Gelsenkirchener Musiktheater, das »Avatar« koproduziert hat und dabei vom »Fonds Neues Musiktheater« des Kultursekretariats NRW unterstützt wurde, hat Schweiger denn auch über neue szenische Lösungen nachgedacht.
Das Orchester mit dem Dirigenten Samuel Bächli wird diesmal hinter der Bühne platziert, die Figuren werden näher ans Publikum im Kleinen Haus herangebracht. Allerdings hat man es nicht bei räumlichen Veränderungen belassen. Durch einschneidende Striche wurde Mosers Partitur bearbeitet und gestrafft – ohne Genehmigung des Autors, der in den Eingri en eine eigenmächtige Verfälschung seines Opernkonzepts sieht, das nicht auf »Spannung« aus ist, sondern weite Räume für Text und Musik schafft. Generalintendant Peter Theiler hält dagegen die Schnitte ins Fleisch für einen »ganz normalen theaterpraktischen Vorgang aus dramaturgischen Erwägungen«. Vielleicht tun Mosers Oper tatsächlich einige Kürzungen gut; vielleicht auch kann man auf bestimmte Ornamente wie das Ballett der Diener verzichten. Ob freilich die eaterpraxis dem Werk eines Gegenwartskomponisten ebenso ungefragt zu Leibe rücken darf wie einem Händel oder Verdi, ist durch das Pochen auf »Freiheit der Interpretation« (Theiler) kaum erschöpfend beantwortet. //
Roland Moser: Avatar, komisch-phantastische Oper in 6 Bildern; Deutsche Erstaufführung am 4. März am Musiktheater im Revier, Gelsenkirchen, von Samuel Bächli (Mus. Leitung) und Peter Schweiger (Regie); weitere Termine: 8., 10., 15., 19. und 22. März 2006