TEXT: JÖRG BUDDENBERG
Ein Haus mit Hörnern, eine Stufenpyramide, getrocknete Ziegen, tote Kamele – fremd geht es zu im Philip-Johnson-Kubus der Bielefelder Kunsthalle, in den Kurator Thomas Kellein zur aktuellen Frühjahrsschau den rätoromanischen Künstler Not Vital eingeladen hat. Die Silber- und Keramikkugeln der Präsentation, der Unmengen von Fladen und Leckkegeln aus Tiersalz in ihrer archaischen Ausstrahlung werden den eher an Oetkers süße Tüten gewohnten Ostwestfalen wohl zu einem rezeptionalen Quantensprung nötigen, tragen zu der im Umfeld der Stadt erratisch wirkenden Phänomenologie dieser Ausstellung bei.
Der 1948 in Sent in Graubünden auf der Schweizer Seite des Engadins geborene Vital ist Grafiker, Fotograf – vor allem Bildhauer. Nicht nur, weil er zwischen unterschiedlichen Produktionsmöglichkeiten wechselt, ist Not Vital einer jener Nomaden der Kunst, deren biografische Unrast durchaus korrespondiert mit Aura und Aussage seiner Werke. Bereits mit zwanzig zog es ihn aus der rauen heimischen Bergwelt in die Straßenschluchten der Großstadt: nach Paris, wo er sein Kunststudium absolvierte. Thomas Kellein berichtet, wie der junge Vital den alten Alexander Calder traf und wie er sich in den Ateliers des gerade verstorbenen Alberto Giacometti umsah. Nach einem Zwischenspiel in Rom trifft er in New York Mitte der 70er mit Willem de Kooning zusammen. Vital bleibt, stellt 1984 erstmals in New York aus. Jahr auf Jahr folgen seitdem seine Ausstellungen. Auf dem gesamten Globus scheint er zu Hause. Produktion heißt reisen, Beweglichkeit ermöglicht Schaffen. Seine Unrast lässt den Künstler bis heute pendeln zwischen Ateliers in New York und Lucca, zwischen Agadez und dem heimatlichen Sent.
Die Frage nach seinen kunsthistorischen Wurzeln führt zurück zu den Strömungen der 70er Jahre. Die Nähe zur Natur, die Vorliebe für einfache, »arme« Materialien vor allem in seinen frühen Werken erinnert an die Geschichte der Arte Povera; die Faszination des Künstlers für die Energie des Augenblicks im aktuellen Arbeitsprozess verweist auf Happening- und Fluxus-Varianten, mit denen vor über dreißig Jahren Kunstgeschichte geschrieben wurde. Nach über drei Jahrzehnten Produktion umfasst Vitals Werk ein breites Spektrum an künstlerischen Techniken. Druckgrafiken, Multiples und Objekte stehen neben Zeichnungen, Fotografien und Skulpturen. Auffallend ist die weitgehende Abwesenheit von Farbe und die Verbundenheit der Sujets mit Naturobjekten wie Schnee und Steinen oder Kulturtieren wie Schaf oder Ziege. Zeichnungen erinnern an den Andeutungsminimalismus alter chinesischer Malerei, Drucke an prähistorische Felszeichnungen, deren Unschärfe zur Intensität der Werke maßgeblich beiträgt. Bei seinen Tierobjekten interessiert Vital sich weniger für einen Mimesisprozess, sie dienen ihm eher als Katalysator zur Visualisierung einer urzeitlichen Magie und Energie. Diese Bildwerdung von Kraft- und Emotionsfeldern steht auch im Focus von Vitals skulpturalem Werk, deren neueren Objekten sich jetzt Kelleins Bielefelder Schau widmet.
Seit fünf Jahren errichtet der Schweizer in der Wüstenstadt Agadez zusammen mit den einheimischen Tuareg Gebäude und Skulpturen. Entstanden sind bislang eine Mekafoni (»Haus mit den Hörnern«, gleichzeitig Wohnsitz des Künstlers), sowie eine Koranschule, die Makaranta (eine Stufenpyramide). Die Objekte befinden sich irgendwo zwischen Land Art und Sozialer Skulptur, denn Vitals Produktionsaufträge an heimische Handwerker initiieren einen sozioökonomischen Austausch. Agadez liegt in Niger, einem leeren und trockenen Land südlich von Algerien und Libyen. Die Stadt ist ein altes Handelszentrum, ein Tor zur Wüste, seit Jahrhunderten Treffpunkt nomadischer Völker und Karawanen. In diesem Umfeld entwickelt Vital mehrere Monate im Jahr seine Projekte, nicht immer ohne Schwierigkeiten: Kellein berichtet von einem Gerichtsprozess, den Vital durchzustehen hatte und der Einblick gibt in eine fremde afrikanische Welt.
Die Fragen im Vorfeld der Ausstellung waren folgende: Wie präsentiert man dieses Afrika auf den zwei Etagen einer Kunsthalle? Und: Kann man mit nur zwölf Objekten das Bielefelder Haus füllen? Man kann, um die Antwort vorweg zu nehmen; und man kann auch eine gerade aus dem Winter erwachte ostwestfälische Stadt mit einem Afrikabild konfrontieren, das jenseits von Dritte-Welt-Tourismus und Entwicklungshilfe sich allein über ästhetische Formen ausdrückt. »Der Tanz, die Hitze und die lasziv schöne Trägheit von Agadez fließen ein in die Kunst von Not Vital. Die Werke verkapseln das Leben. Sie gemahnen an den Tod. (…) Es geht um Leben und Lachen in einer Kunst, die die Sterblichkeit natürlicher Wesen als Fest in den Vordergrund rückt«, schreibt Kellein zu diesem Kontext, der stärker als in anderen Bielefelder Ausstellungen auf die Vermittlungskünste seiner Mitarbeiter angewiesen sein wird.
Der Rundgang in Bielefeld beginnt mit dem siebenfach vergrößerten Modell eines Holztretrollers. Mit diesem »Vehikel« ist der Besucher im Afrika Vitals angekommen. Im ersten Obergeschoss dann das Ende eines Kunstwerks: dreihundert Kamel-Keramikköpfe aus Gips, zuvor zweimal in Moskau gezeigt, werden zwei Wochen vor Beginn der Bielefelder Schau gegen die Wand geworfen. Die Erde gibt, die Erde nimmt, sagt Vital sinngemäß, und so geht auch das Kunstobjekt seinen irdischen Gang.
Der Katalog beschreibt in einer fragilen, Leben und Tod als gemeinsamen Prozess sichtbar machenden Semantik die rituelle Schlachtung zweier Ziegen. Damit richtet sich der Betrachterblick auf den Tierkörper als Material. Nur achtundvierzig Stunden nach der Schlachtung bleiben von den Haustieren lediglich kleine, von der Hitze dehydrierte Reste, die als »Herde« (Troupeau) in einen silbrigen Kasten gelangen – von Vital als eine Art überdimensioniertes Amulett in Auftrag gegeben und denen gleichend, die die Tuareg bis heute als eine Art Fetisch um ihren Hals tragen.
Der Besucher wandert an den fünfzehn Keramikkugeln entlang, in denen Überreste eines geschlachteten, in der Sonne getrockneten Kamels aufbewahrt werden, bevor er das Aluminium-Modell eines dreizehn Meter hohen Hauses erreicht, das Vital zur Beobachtung des Sonnenuntergangs bauen ließ. Danach, düster und abweisend und kaum einen Meter hoch, das Modell für einen Wasserturm. Gegenüber den modernen Zisternen, die in Agadez auch als deutsche Entwicklungsprojekte entstehen, berührt Vitals Modell aus schwarzem belgischen Marmor durch seine dunkle, schwer zu beschreibende Ausstrahlung: eher Schrein als Lebensspender.
Dann ein Gang vorbei an der Plastik »Westafrika« ins zweite Obergeschoss. Man glaubt bereits die Fragezeichen in den Besucheraugen zu sehen: 180 aufgetürmte blaue Plastikbecher erzählen schlaglichtartig von einem modernen, vorrangig als Markt und Investitionsobjekt definierten Afrika. Oben dann Tonnen von Salz (Tissoum), seit Urzeiten Handelsobjekt, mit dem Produkte wie Hirse, Tee, Gewürze oder Textilien erhandelt wurden – eine stumme erhabene Armee archaischer Kulturformen, für die in Bielefeld ein mitteleuropäischer materieller Gegenwert errechnet wurde: eine Tonne Spaghetti, die Not Vital nach dem Ende der Ausstellung nach Agadez zurück bringen wird. Zuvor jedoch wird eine andere Form des Austausches zelebriert werden: Im Garten der Kunsthalle begräbt der Künstler den ausgestopften Leichnam eines jungen Kamels.