TEXT: ANDREJ KLAHN
Jungs haben es in John Burnsides Romanen nicht gut. In »Glister«, vor drei Jahren auf Deutsch erschienen, verschwinden sie einer nach dem anderen aus einem kleinen, von einer Chemiefabrik verseuchten schottischen Städtchen. Es heißt, sie wären aufgebrochen in ein besseres Leben. Doch wurde schon eine bestialisch zugerichtete Leiche nahe der Fabrik aufgefunden. Was der offiziellen Version vom Auswandern aus der Tristesse nicht widersprechen muss. Hoffnung und Leid sind bei Burnside fast ununterscheidbar miteinander verwoben. Kaum einer vermag wuchtig alttestamentarische Geschichten von Schuld und Sühne so zart und luftig hinzutuschen wie der 67-jährige schottische Lyriker und Romancier. Nur ist die Hölle auf Erden bei ihm von Unschuldigen bevölkert – und als gleißende, funkelnde Erlösergestalt erscheint ihnen nicht selten der Todesengel.
Burnsides neuer, im letzten Jahr auf Englisch erschienener Roman »In hellen Sommernächten« liest sich wie eine Fortschreibung von »Glister«, als Wiederaufnahme und Variation seiner Themen und Motive: Auf der nördlich des Polarkreises gelegenen norwegischen Insel Kvaløya verschwinden zwei junge Brüder. In mondhellen Nächten sind sie im Abstand von wenigen Tagen auf das ruhige Meer hinausgerudert und nicht wieder zurückgekommen. Die 18-jährige Erzählerin Liv hegt den Verdacht, dass es sich dabei nicht um Unfälle gehandelt haben kann. Eine Vermutung, die von den Huldra-Erzählungen Kyrre Opdahls genährt wird, des einsiedlerisch lebenden väterlichen Freundes von Liv. Die Huldra ist in der nordischen Mythologie ein hässlicher Troll in Gestalt einer Frau, deren Schönheit Männer ins Chaos stürzen lässt. Hinter ihrer Maske verberge sich eine Leere, »ein winziger Riss im Gewebe der Welt«. Irgendwann, so lautet der nicht weg zu rationalisierende Kern des Mythos, trete etwas aus dem »Hintergrundrauschen und dem Schatten« hervor und stelle infrage, woran wir entschlossen glauben. Obwohl Liv die Huldra als Klischee durchschaut, wirkt diese Mär wie ein Filter, durch den sie fortan ihre Umgebung wahrnimmt.
Burnside erzählt mit »In hellen Sommernächten« eine fantastische Geistergeschichte. Lang und hell sind die Tage auf der Insel, doch eben diese Überbelichtung versieht das Geschehen mit einer tranceartigen
Undeutlichkeit. Dazu gehört auch, dass Burnside zahlreiche Handlungsfäden in weiten Schlaufen miteinander verknotet: der Tod der Brüder, das merkwürdig duldsame Verhältnis Livs zu ihrer lieblosen und doch dominanten Künstler-Mutter, die zu späte Ankunft am Sterbebett des getrennt lebenden Vaters, den Liv nie lebendig zu Gesicht bekommen hat, der Aufenthalt des rätselhaft somnambulen Martin Crosbie auf Kvaløya, der mit der Kamera heimlich junge Mädchen aufnimmt und ebenfalls ins Wasser gehen wird. Und natürlich die Beziehung Livs zu Maia, der vermeintlichen Huldra, die Burnside raffiniert an der Grenze zur psychotischen Doppelgängergeschichte ausbalanciert.
Ein Schleier scheint auf dem Geschehen zu liegen, an das sich Liv aus dem Abstand von zehn Jahren erinnert. Was genau er verbirgt, wird bis zum Ende nicht aufgelöst. Nichts ist, wie es scheint – wozu nicht zuletzt die Erzählerin beiträgt, deren wortmächtige Unzuverlässigkeit dem Leser erst mit fortschreitender Handlung bewusst wird. Liebhaber solider Schauergeschichten seien jedoch gewarnt: »In hellen Sommernächten« kommt ohne vordergründige Horror-Effekte aus. Haarfein und leicht zu übersehen sind die Risse, durch die das Unheimliche in die Normalität einbricht. Hat man das leise Knacken der Oberfläche aber einmal vernommen, eröffnen sich beunruhigende Lesarten. Und noch eine Warnung: »In hellen Sommernächten« ist eines dieser Bücher, dessen grandios beklemmende Stimmung einem sehr lange nachhängen kann.
John Burnside: »In hellen Sommernächten«; Knaus, München 2012, 384 S., 19,99 Euro
Lesungen am 20. & 21. Juli auf Gut Renkhausen in Lübbecke bei »Wege durch das Land«