Langerfeld ist ein eher verwachsener denn gewachsener Randstadtteil Wuppertals. Nur wenige Meter von der nach Schwelm führenden Hauptstraße entfernt aber ist man plötzlich tief in einer geschlossenen Vergangenheit. Kleine schieferverkleidete Häuschen gruppieren sich auf dörfliche Weise, mächtig mitten dazwischen, wie im Bergischen Land oft der Fall, eine dreigeschossige Backsteinfabrik, die alles überragt. Hinter den hohen Sprossenfenstern sieht es dunkel aus. Die Eingangstür am Giebel ist schmal, die Diele dahinter winzig, sofort geht es eine steile, ausgetretene Treppe hinauf. Links eine weitere dunkle Tür, man tritt ein, man prallt sofort zurück: Der hohe, tiefe Raum ist vollständig gefüllt mit einem deckenhohen Gewirr und Gestänge, mit Stützen, Streben, Scheiben, Zahnrädern und Riemen aus Holz, Leder und Metall. Und es bewegt sich. Es rattert und klappert, es ruckt, es hebt und senkt sich – es sind Webstühle, die in diesem Saal arbeiten, ein Dutzend über hundert Jahre alter, eng stehender Ungetüme, gewaltig und zugleich wunderbar filigran. Dingwesen von hohem skulpturalem Reiz.
Die Webstühle gehören Frauke Kafka, einer freundlichen, resoluten Frau in den 60ern. Sie betreibt hier kein Museum, sie betreibt ein Gewerbe, doch mit der alten Technik, den alten Maschinen. Und nicht zum Vergnügen industriegeschichtlich interessierter Touristen – obwohl auch die willkommen sind –, sondern als Broterwerb für sich und ihre fünf Mitarbeiter. 1991 hat sie die 1898 gegründete Fabrik übernommen, als diese längst nicht mehr kostendeckend produzierte, weil die Entwicklung an ihr vorübergegangen war. Ein wirtschaftlicher Not-, ein historischer Glücksfall – denn wo gibt es das noch, voll funktionstüchtige Bandwebstühle aus dem späten 19. Jahrhundert, mit schmiedeeisernen Streben, mit Weberschiffchen aus unverwüstlichem Buchsbaumholz und Horn? Sogar die Steuerung am fast vier Meter hohen Kopf der Maschinen ist noch die originale: eine hölzerne Sechskantwalze, auf der ein Endlosband aus großen, dicken Lochkarten läuft. Die Karten werden mit langen Nadeln abgetastet, ein Loch bedeutet Fadenhebung, kein Loch Fadensenkung. Blitzschnell heben und senken sich die Nadeln, ziehen die Kettfäden auf und ab.
Denn die Webstühle arbeiten nach dem Jacquard-Prinzip. Der Franzose Joseph-Marie Jacquard war der erste, der eine programmierbare Maschine entwickelte, sie funktionierte bereits nach dem binären Prinzip und ermöglichte es, beliebig komplizierte Muster von endloser Länge zu weben – im Jahre 1805. Ein geniales Prinzip, das erst in den letzten Jahrzehnten durch computergesteuerte Anlagen überrundet wurde, Automaten, die bis zu hundertmal so schnell weben wie ein Jacquard-Stuhl. Doch hier rattern sie noch, diese historischen Webstühle, insgesamt 25 auf zwei Etagen in der Kafka’schen Bänderei.
Jeder ist an die vier Meter breit, gut zwei Meter tief, gewebt werden an jeder Maschine zehn Bänder gleichzeitig, im selben lochkartengeleiteten Muster, doch in unterschiedlichen Farben: Je vier Weberschiffchen heben und senken sich und schießen andersbunte Baumwollgarne durch die Kette. Eine Stunde benötigt ein solcher Webstuhl für 75 Zentimeter Band.
Dennoch hat die Weberei in Wuppertal-Langerfeld ihr Auskommen, denn sie setzt in unserer Zeit der Einheitswaren aufs Besondere: auf Qualität, auf die Schönheit der Produkte sowie auf den ungeheuren Reiz, den das Produktionsverfahren selbst auf potenzielle Käufer ausübt. »Ich muss schauen, dass ich meine Kunden hierher locke, dann habe ich gesiegt«, sagt Frauke Kafka. Ihre Kunden, das sind Konfektionäre, Designer und Textilfirmen in der ganzen Welt, sogar in Japan und den USA hat sie Abnehmer. Ihre Produkte, das sind Bänder von ein bis fünf Zentimetern Breite in wunderschönen historischen sowie gelungenen neuen Mustern; denn Frauke Kafka ist gelernte Textildesignerin.
Die meisten Motive variieren florale Bezüge, doch es gibt auch Sternchen, Tiermuster sowie ausgefallene Modeetiketten; zum Heine- Jahr hat Frauke Kafka ein Band aufgelegt, auf dem sich Zeilen eines Poems des Dichters um eine Rose winden. Gemeinsam aber ist den über 400 verschiedenen Bandentwürfen eines: dass die Seele der wunderbaren alten Webstühle auf die Stoffe, die aus ihnen herausruckeln, überzugehen scheint.
So bezaubernd die Kafka’sche Bandweberei ist, sie ist im Bergischen kein Solitär. Das Städtedreieck Remscheid-Solingen-Wuppertal ist voll mit industriegeschichtlichen Relikten der Textil- und Metallverarbeitung, auch wenn die meisten heute nicht mehr produzieren. Aber anzuschauen sind sie; da ist es von hohem Nutzen, dass die Regionale all diese Orte erstmals in Form von Routenangeboten verbunden hat, um sie aus ihrer teilweisen Vergessenheit zu holen, um das Bewusstsein für die immense industriegeschichtliche Vergangenheit der Region zu wecken bzw. wachzuhalten. 19 »Ankerpunkte« sind auf diese Weise nun qualifiziert und informationell aufgearbeitet, darunter so faszinierende Orte wie die Textilstadt Wülfing in Radevormwald, ein komplett erhaltenes, aus dem 19. Jahrhundert stammendes Ensemble von Wohnen und Arbeiten an einem Ort. //
Bandweberei Kafka, Beyeröhde 14, 42389 Wuppertal; Tel.: 0202/60 27 44; Öffnungszeiten jeden 2. Samstag im Monat 10-16 Uhr; Videostream unter www.wdr.de/online/nrwarbeitsstaetten/projekt07/bandweberei.htm Der Band »Expedition hoch 3. Erlebnistouren im Bergischen Städtedreieck« bietet einen vorzüglichen Wegweiser; www.erlebnis-industriekultur.de