TEXT: ANDREJ KLAHN
Eine Abrechnung bis aufs Messer, und das ist durchaus wörtlich zu verstehen: Spätabends lauert der Sohn dem wie so oft trunken aus dem Pub nach Hause wankenden Vater auf. Die Phantasie hat alles schon durchgespielt: Wo es geschieht, und wie die Waffe hinterher entsorgt werden kann. Der Vater aber ist nicht allein und der Sohn dann doch erleichtert, dass er nicht zu tun braucht, was der Hass ihm eingegeben hat. John Burnside heißt dieser Sohn, der sich Jahrzehnte später in »Lügen über meinen Vater«, einem autobiografischen Buch, erinnern, dass es ihm damals nie darauf ankam, »Nobodaddy« zu erstechen. Ihm reichte schon das Wissen um den Wunsch, um zu verstehen, dass er von zuhause fortgehen musste.
Ein anderer Sohn, eine berührende Annäherung, wiederum wörtlich zu verstehen: »Warum tust du das?«, fragt August Geiger, der Vater, Arno, den Sohn, als der ihm die Hand drückt. »Nur so«, lautet die Antwort. Und dann: »Ich tue es, weil ich dich mag.« Eine Erklärung, die, so notiert Arno Geiger in »Der alte König in seinem Exil« seine Beobachtung, den Vater beschämt.
Diese Väter und die Erinnerungen an sie könnten unterschiedlicher kaum sein. Hier der gewalttätige Trinker und chronische Glücksspieler, der sich und seine Familie zugrunde richtet, der John quält, erniedrigt und schlägt; da der fortgeschritten demente alte Mann, um den sich die Geschwister und Kinder erschöpfend lange kümmern. Hier ein armseliger Tyrann, gegen den das Vergessen und die räumliche Distanzierung machtlos sind, weil er den Sohn als »glühender Funke Selbsthass im Innersten meiner Seele« heimsucht; dort ein Greis, der schon in gesunden Jahren hinter Gewohnheiten unsichtbar geworden ist und in der Keller-Werkstatt des von ihm erbauten Hauses ein »Robinson-Crusoe-Dasein« inmitten seiner Familie führt.
Dennoch haben John Burnsides »Lügen über meinen Vater« und Arno Geigers »Der alte König in seinem Exil« etwas gemeinsam: Beide Bücher thematisieren die Desillusionierung des kindlichen Sehens, das in Vätern ein Leben lang Souveräne zumindest des Alltags erkennen möchte. »Weil man als Kind seine Eltern für stark hält und glaubt, dass sie den Zumutungen des Lebens standhaft entgegentreten, sieht man ihnen die allmählich sichtbar werdenden Schwächen sehr viel schwerer nach als anderen Menschen«, schreibt Arno Geiger gleich am Anfang seines sanftmütigen Buches. So kann der Blick des Sohnes in den ersten Aussetzern des Vaters zunächst lediglich Vergesslichkeit und im stundenlangen Patiencenlegen »dumpfe Gleichgültigkeit« erkennen. Der Vater wird zum »Schwachkopf«, weil er seine Tage vor dem Fernseher verdämmert. Bis mit der Diagnose »Alzheimer« die Zeit der Duldsamkeit beginnt.
Auch Burnside trauert einem »verlorenen Halbgott« nach, als er in den Augen des Vaters die Angst bemerkt, einsam im Krankenhaus zu sterben. In diesem Moment erinnert er sich an das Gefühl, das sich einstellte, als er mit zwölf Jahren aus der Kinderwelt vertrieben wurde, in der Väter für unsterblich gelten. Damals wandelte sich der Vater von der tragischen zur jämmerlichen und doch gefürchteten Gestalt. Dass der Erwachsene ihn überhaupt mal anders denn als verhassten Versager erinnern würde, grenzt an ein Wunder.
Selten sind Vater-Sohn-Geschichten bloß Abrechnungen. Fast immer geht es in ihnen auch um Anerkennung und Aussöhnung, ausgesprochen oder nicht. John Burnside aber kennt keine Gnade mit seinem verstorbenen Vater. Man solle »Lügen über meinen Vater«, so stellt der schottische Schriftsteller dem 2006 im Original erschienenen Buch vorweg, als ein Werk der Fiktion lesen. Denn: »Wäre mein Vater hier, um mit mir darüber zu reden, gäbe er mir bestimmt recht, wenn ich sagte, es sei ebenso wahr zu behaupten, dass ich nie einen Vater, wie dass er nie einen Sohn hatte.« Was folgt, ist zugleich eine verstörend schonungslose Geisterbeschwörung und ein sprachmächtiger Exorzismus gegen einen Untoten. Jetzt also erzählt der Sohn »wahre Lügen«, die er gegen die des Vaters stellt, der sich von Kindheit an ein falsches Leben zusammenphantasiert hat. Als Baby wird er an einem Frühjahrstag im Jahre 1926 auf einer Türschwelle abgelegt. Danach wird Thomas von Haus zu Haus in der schottischen Bergarbeitersiedlung Cowdenbeath gereicht und muss sich eine Herkunft und Notwendigkeit erfinden. Er wird immer ein Betrüger bleiben.
Mildernde Umstände ließen sich also durchaus reklamieren für den Vater, der sich als Handlanger auf dem Bau verdingt und das wenige Geld, das er verdient, in der Kneipe oder beim Pferderennen lässt. Burnside will sie nicht gelten lassen. Der Grad seiner Verletztheit lässt Mitleid nicht zu. Er erzählt von einer Erziehung zur Härte, von einer Jugend, der es an Anerkennung und Zuwendung fehlt, an wirklicher Autorität und an Liebe sowieso. Er erinnert sich an die wiederholten Umzüge der Familie, an die halbherzigen Neuanfänge, die er als durchsichtige Manöver durchschaut, geschuldet der Tatsache, dass der Alkoholiker seinen sozialen Kredit aufgebraucht hat und in den Kneipen nicht mehr anschreiben lassen kann. An Fluchtversuche, die im Fertighausviertel enden, an Scham und Not. Eine lange Schussfahrt Richtung Abgrund sind diese »Lügen über meinen Vater«, eine Demontage, für die Burnside einen Ton findet, der seine Verachtung und Wut konzentriert, ihnen Form und Wucht gibt.
Nachsicht darf der Vater auch deshalb nicht erwarten, weil er den Sohn mitstürzen lässt. Ein Quartalssäufer sei er noch heute, stellt Burnside fest, als Jugendlicher experimentiert er exzessiv mit Drogen jeglicher Art und findet sich zweimal in der Psychiatrie wieder. Die Wunde Vater will nicht heilen, weshalb das Leben des Sohns auf bedrohliche Weise in »parallelen Bahnen« zu dem des Vaters verläuft, dessen Gesicht er erkennt, wenn er in den Spiegel schaut. Dass Burnside sich so wenig wie den Vater schont, schützt dieses quälend überwältigende Erinnerungsbuch vor Larmoyanz und Selbstgerechtigkeit. Die Unerbittlichkeit, mit der die Existenz des Vaters durchschaut wird, bleibt beherrscht und lässt sogar Raum für ein Schuldeingeständnis. Zeiten gebe es, »da schaue ich zurück und ahne, Zeiten, da schaue ich zurück und weiß, dass ich an unserer Unfähigkeit, einander Vater und Sohn zu sein, ebenso schuldig bin wie er.«
Während John Burnside das Vakuum zu füllen versucht, das der nicht satisfaktionsfähige Vater ihm mit auf den Weg gegeben hat, gibt Geiger zunächst dem Schuldgefühl Raum, verkannt zu haben, dass der Vater nicht mehr Herr der Lage hat sein können. Man bitte stets um Vergebung, wenn man schreibt, zitiert er Jacques Derrida. Wenn »Der alte König in seinem Exil« tatsächlich so etwas ist wie eine Entschuldigung, die der Vater nicht mehr zur Kenntnis nehmen kann, dann die uneitelste, die sich denken lässt. Unaufdringlich im Ton, skizziert Geiger das Porträt eines Helden der Schwäche, der sich selbst als »Geflickter« und »Faulenzer« bezeichnet, weil er nicht mehr funktioniert. Er protokolliert immer neue Anläufe, die den Vater in seinem mentalen »Exil« erreichen sollen, schildert Versuche, die Gesetzmäßigkeiten jener Welt anzuerkennen, in der August Geiger lebt. Wahrheiten, »sachlich korrekte Antworten« helfen im Umgang mit ihm nicht. Aber wird man das Gegenteil davon in diesem Fall wirklich Lügen nennen wollen?
Nüchtern hält Arno Geiger Gespräche mit dem Vater fest, notiert Beobachtungen und Gedanken. Unter der Hand gerät diese Auseinandersetzung mit dem Vater, von dem der Sohn sich schon weit entfernt hatte, zur beglückend wachen Selbstbeobachtung, frei von jeder Egozentrik. So ist »Der alte König in seinem Exil« nicht zuletzt ein kluges Buch über all die Erwartungshaltungen, die zwischen Vätern und Söhnen nicht zur Sprache kommen. »Fast jeder und jede scheitert an der Idee, die man vom Vater hat. Kaum ein Mann schafft es, dem Bild gerecht zu werden, das Kinder sich vom Vater machen.«
John Burnside, »Lügen über meinen Vater«, Knaus, München 2011, 382 S., 19,99 Euro.
Arno Geiger, »Der alte König in seinem Exil«, Hanser, München 2011, 189 S., 17,90 Euro.