TEXT: MICHAEL STRUCK-SCHLOEN
Man möchte sich die Haare raufen. Oder vielleicht besser die Grafikkarte des Computers, die jetzt schon zum dritten Mal das Abspielen von Bill Morrisons Film »Decasia« verweigert bzw. fragmentarisiert. Aber was kann man schon anderes von einem Film erwarten, der Verfall und Verwesung im Titel trägt. Dabei könnte man »Decasia« – eine Anspielung an Fantasia – mit »im Verwesungszustand« übersetzen, was ein wenig nach Strindberg oder Gerhart Hauptmann klingt, oder mit »Verfallsanordnung«, was eher Handkes frühe Stücke beschwört. Oberflächlich geht es in Morrisons Film von 2002 um den Zerfall von belichtetem Filmmaterial: um aufreißendes, zerfaserndes Zelluloid, auf dem die Schwarzweiß-Bilder verschwimmen und sich auflösen, ein Hundefraß der Zeit und der endlichen Materie. Stummfilmszenen, Explosionen, Gesichter, Flieger am Himmel, taumelnde Derwische: alles wird ein Raub der Formlosigkeit auf diesen angemoderten Filmstreifen ferner Zeiten, die der Regisseur im Archiv von Fox Movietone Newsfilm in Süd-Carolina fand.
In Wahrheit aber geht es natürlich nicht um chemische Verfallsprozesse, sondern um die Vanitas im großen, grundsätzlichen Sinne – eine Idee, die auch Morrison nicht ohne das Pathos amerikanischer Filmemacher gegenüber den letzten Fragen umsetzt. Es ist das Pathos der Wiederholung und zermürbenden Gleichförmigkeit, der Zerdehnung und langsamen Zersetzung, welche den Verfall in »Decasia« schmerzlicher und dumpfer erfahrbar macht als Schlingensiefs Videos verwesender Hasen am Schluss seiner Bayreuther »Parsifal«-Inszenierung. Ein großer epischer Atem durchzieht den Film – und seine Musik. Denn statt Wagner benutzt Morrison eine eigens komponierte »Vergänglichkeits-Symphonie« von Michael Gordon: seltsam kaputte, »ungesunde« Klänge von verstimmten Klavieren und verstimmten Orchesterinstrumenten, grundiert vom akustischen Zivilisationsmüll verrosteter Bremstrommeln.
Auch in Europa ist der 1956 in Florida geborene und bei Managua aufgewachsene Michael Gordon kein Unbekannter mehr. Als Mitbegründer des New Yorker Festivals Bang On a Can hat er den Flirt mit der New Yorker Underground-Rock-Kultur hoffähig gemacht, hat in seinen minimalistischen Partituren traditionelle Instrumente und Stimmen mit E-Gitarren, elektronischem Equipment und optischen Komponenten kombiniert. Seine Video-Oper »Weather« wartete vor sieben Jahren in der Bonner Bundeskunsthalle mit tönenden meteorologischen Zuständen und gefilmten Naturstimmungen auf; seit einigen Jahren arbeitet Gordon zusammen mit Julia Wolfe und David Lang an einer szenisch-oratorischen Trilogie für die Brooklyn Academy of Music. Nach den bereits realisierten Projekten »The New Yorkers« und »Lost Objects« wird am 18. März im Kölner Funkhaus des WDR der dritte Flügel des Triptychons aufgeklappt. »Shelter« ist der Titel für dieses szenische Konzert mit dem Ensemble musikFabrik und dem Vokal-trio mediæval unter Leitung von Brad Lubman – mit Filmeinblendungen von Bill Morrison und Musik von Michael Gordon, Julia Wolfe und David Lang. Was in Köln noch ohne Bühnenbild und dezidierte Regie auskommt, soll dann im November in der Brooklyn Academy zum Theaterereignis werden.
Schon im Vorgängerprojekt »Lost Objects« hat sich die Schriftstellerin Deborah Artman in der Textvorlage mit den gefährdeten Dingen ihrer Kultur auseinandergesetzt. Da ging es um den Verlust der kleinen und großen Dinge: von Sprachen, Technologien, Erinnerungs- und Kleidungsstücken, Menschen, Ritualen. Die jüdische Tradition der Autoren, die das Bewahren von Erinnerung explizit fordert, spielte eine Rolle bei der Textauswahl, während die Musik ein originelles Amalgam aus repetierten Klängen für Barockorchester (Concerto Köln), Solostimme und Chor, DJ und Rockband bildet. Wie bei »Lost Objects« hat Deborah Artman jetzt auch das Libretto zu »Shelter« aus einem Brainstorming der Mitwirkenden entwickelt: »Zuerst haben wir uns einen Begriff ausgesucht, den wir erforschen wollten – in diesem Fall den Begriff shelter, Schutz. Beim ersten Treffen wurden freie Assoziationen zur metaphysischen, emotionalen und praktischen Bedeutung in die Runde geworfen. Mit dieser Liste habe ich dann einige Monate lang bestimmte Bedeutungsfelder untersucht: einfach alles von den Namen verschiedener Nägel und Schrauben über das Inventar einer Notversorgung und Pfadfinder-Handbüchern bis hin zu philosophischen Texten über Architektur.«
Aus solchen Assoziationen hat Artman in engem Kontakt mit der Komponistin und ihren Kollegen sieben Texte geschrieben, in denen shelter je nach Nuancierung die Bedeutung von »Schutz, Schutzraum, Schutzbedürfnis, Unterkunft, Behütetsein« bekommt – in jedem Fall eine positiv besetzte, aber in unserer Zivilisation höchst gefährdete Angelegenheit. Das Heim als Höhle und Schutzhülle für Menschen, ihre Gegenstände und Rituale; das American Home als standardisierter Bau; die Natur als Moment von Freiheit, aber auch der Unsicherheit; die allmähliche Verbarrikadierung der Veranda als Symbol der misstrauischen Abschottung – das sind die ebenso schlichten wie weitreichenden Bedeutungsfelder, die in diesem »szenischen Konzert« vertont und verhandelt werden. Und man wird sich die Musik für das neue Stück »Shelter« wohl so ähnlich vorstellen müssen wie jene des Vorgängerprojekts mit ihren kindlich zarten und naiven Volksliedanklängen, den effektvoll vorpreschenden Riffs, den hypnotisierenden harmonischen Endlosschleifen mit kleinsten Übergängen, den virtuosen Kaskaden der Streicher und Bläser.
Für die achtzehn beteiligten Virtuos(inn)en der musikFabrik ist »Shelter« eines der aufwändigsten Projekte in der vierzehnjährigen Geschichte des Ensembles. Dabei spricht es durchaus für die Expansionsbestrebungen der Gruppe, die seit ihrem Umzug von der kleinen Orangerie im Düsseldorfer Schlossvorort Benrath ins Kölner Gewerbeviertel am Maarweg ihre Aktivitäten ausgedehnt haben. Ihre experimentelle Phantasie und stilistische Offenheit jedenfalls stellt die musikFabrik mittlerweile in eine Reihe mit dem Ensemble Modern oder dem Klangforum Wien.
»Shelter«, Szenisches Konzert mit Video-Projektion (Uraufführung). Köln, Funkhaus des WDR, 18. März 2005, 20 Uhr