TEXT: ANDREAS WILINK
Schwer erziehbar – ein Euphemismus. Steve, 16, ist aus der Geschlossenen Anstalt entlassen, nachdem er einen Brand gelegt hatte, durch den ein Junge schwer verletzt wurde. (Später kommt die Prozessvorladung und die Forderung nach 50.000 Dollar). Diagnose ADHS, hyperaktiv und affektiv gestört. Man könnte auch sagen: Nicht gesellschaftsfähig. Seine Mutter Diane Després holt ihn heim. Sie und ihr Sohn sind einander ebenbürtig. Laut, rabiat, unkontrolliert.
Er sieht aus wie ein Engel und hat den Teufel im Leib: brav gescheitelt, blauäugig, ein Clownslächeln. Die Kamera klebt an diesem Blondschopf. Er ist eine Zeitbombe. Ein Partisan, der sich an keine Regeln hält, sich bepisst in seiner Panik, sich mit dem Messer die Pulsadern aufschneidet, in einem Lokal mit den Scherben einer Bierflasche auf jemanden losgeht, weil er all die feixenden Fressen nicht mehr sehen kann. Antoine-Olivier Pilon spielt ihn wie einen Robert Stadlober, der in einem Terrorcamp statt auf der Schauspielschule ausgebildet wurde. Born to die.
Diane, die mehrere Jobs braucht, um sich und ihn durchzubringen, ist die Schlampe mit der strähnigen Mähne, die Zigarette zwischen den Lippen, den Wein aus dem Karton saufend. Vulgär, mondän, von Instinkten geschüttelt. Die grandiose Anne Dorval als Tennessee-Williams-Weibsstück voll Sex, Kraft und Naturgewalt.
Es ist die Härte. »Mommy«, Xavier Dolans Ergänzung und Gegenreaktion auf sein furioses Debüt »I killed my Mother« von 2009, ist ein Rausch. Horror- und Liebesfilm. Fast ein Schlusspunkt mit Ausrufezeichen. Er zeigt die Fratze hinter der perfekten Schönheit seiner vier vorherigen Filme. Wo der junge Kanadier sonst den Glanz kultiviert und die Oberfläche zum Schimmern gebracht hat, spielt er nun mit dem Hässlichen und Gemeinen. Es ist, als würde der Film uns ankotzen wollen: kälter, feindseliger, rüder als der frühere Dolan (aber mindestens ebenso hochmusikalisch), vielleicht unterminiert von Kubricks »Clockwork« und überhaupt von der Rebellion und Gegenkultur der Sixties.
Und doch ist da eine aufgeraute Zartheit und Sanftheit, die sich selbst nicht aushält. Die ruhigen Momente verdanken sich zumeist der Nachbarin Kyla (Suzanne Clément), einer sprachgestörten Lehrerin, die mit ihrer »normalen« Familie im Haus gegenüber wohnt und zu der Steve einen besonderen Draht hat.
Die Kamera darf und kann alles. Tut, was sie muss, um den beiden Monstern auf den Leib zu rücken und unter die Haut zu fahren: ihrem Temperament, ihrer destruktiven Energie, Wut und Überdruss, Brutalität, Selbsthass und Liebesbedürfnis. Was für ein Lebenswille! Steves Zukunft (mit einem Schnitt wechselt der Darsteller) wird uns als Fantasie Dianes ausgemalt und in verwischten Momentaufnahmen von Examen, Verlobung, Hochzeit, Vaterschaft und Glücksgefühl entwickelt. Stattdessen holt ihn die Psychiatrie, pumpt ihn voll mit Medikamenten und steckt ihn in die Zwangsjacke. Der Irrsinn, die Maßlosigkeit dieses Films ist sein Ereignis. Triumph des jungen Kinos.
»Mommy«, Regie: Xavier Dolan; Darsteller: Antoine-Olivier Pilon, Anne Dorval, Suzanne Clément; Kanada 2014; 138 Min, Start: 13. November 2014.