Es »passierte etwas Erschütterndes: Ich merkte, dass mir nichts auffiel, nichts Besonderes, nichts wirklich Bemerkenswertes«. Sagt der Spaziergänger, der durch eine Stadt am Sonntagmorgen wandert. Ein Flaneur ist er nicht, auch kein Suchender, eher ein nüchterner Beobachter, der räsoniert, ob es wohl eine Vision oder Mission brauche.
»Sonntag 1« heißt der sechsminütige Animationsfilm von Jochen Kuhn. Ein bisschen geht es dem Betrachter der Wettbewerbs-Programme der Kurzfilmtage Oberhausen 2006 auch so, die 23 deutsche und 64 internationale Produktionen nebst Sonderprogrammen zeigen.
Nichts Besonderes? Allein, Kuhns Stadtmensch scheint im Gewirr der à la Escher verwachsenen Treppen, der Kellerluken und wie von de Chirico in metaphysisch trostloser Leere gebauten Plätze und gesichtslosen Hochhaus-Profilen doch einiges zu übersehen. Zum Beispiel hinter einer Scheibe die Männer in Uniform oder das Reklameschild für ein »Hotel Executive«. »Ruhe bewahren. Geduld haben.
Weitergehen«, fordert der Mann sich ironisch ab, der ja vielleicht auch dazu neigt, die Dinge, die er nicht sehen will, zu übersehen. Das gilt nicht nur für Städte, auch für Filme, in denen man auf den entscheidenden Moment wartet, auf eine Entdeckung hofft. Kuhns »Sonntag« schaut man sich am besten als DVD an, um immer wieder zurückspulen zu können, argwöhnend, etwas falsch eingeschätzt, einen Winkel unerforscht, eine Perspektive ungedeutet gelassen zu haben.
Ein Mann will das Wort Kino (»Krov«, Frankreich) bauen – aber es kommen ihm Buchstaben dazwischen sowie Wort-, Gedanken- und sonstige Bruchstücke. Die Innenwelt bedrängt hier die äußere Wirklichkeit. In diesem Jahrgang scheinen die Animation und das Spielelement den Realitäts-Besichtigungen den Rang abzulaufen. Der künstliche fiktionale Blick – zum Beispiel in der britischen Groteske »Because of the War« – formuliert sich stärker, überzeugender, gewitzter als der dokumentarische, stark politisch und eindeutig motivierte Blick.
Es gibt Ausnahmen: In »Civil Status« (Russland) verleiht das Standesund Einwohnermeldeamt, in dem Ehen geschlossen, Scheidungen und Sterbefälle registriert werden, dem Sittenbild einer ermüdeten, nur angestrengt fröhlichen Gesellschaft den rechten Ort. Oder die kontemplative Meditation »Ideas of Order in Cinque Terre« (Italien/ USA). Hier steht – ähnlich wie in Lampedusas sizilianischem »Gattopardo « – die Zeit still, aller Fortschritt ist nur lachhaft und die einzige Bewegung in dem melancholischen Gleichlauf stellt die der Wellen des Meeres und eines fahrenden Zuges dar. Zumeist aber ereignet sich das Berückende und Berührende in anderen, trickreich raffinierten Erzählformen. »Sleep with the Fishes« (GB) findet zu einem Song der »Tiger Lillies« in einer Lache eine ganze Welt: ein Meer, befahren von einer Armada seltsamer Boote und ihrer Insassen: Untergeher, Paddler, Galeerensklaven, Götterknaben, Fischmenschen, Sonnenanbeter, Nassforsche und Sportive. »Stalk« (GB) zeigt einen Hasen, der auch nur ein Mensch ist und sich bedroht fühlt von einem ihn verfolgenden Kohlkopf mit Möhren-Gliedmaßen, der ihm schöne Auge macht und ihn zum Gefressen-Werden gern hat, als sei dies eine kannibalische Geschichte aus »Rothenburg«. Jumana Emil Abboud gelingt mit »The Diver« (Palästina) eine wundersam sehnsuchtsvolle Spielzeug-Collage, in der – betrüblich wie in einem Andersen-Märchen oder heiter wie im Zauberland von Oz – ein Plastik-Taucher ein Herz gewinnen will. Also nach etwas Unmöglichem strebt! In »Comeback« (Österreich) von Mara Mattuschka ist die Kunst ebenfalls die Muse, ist radikale Verwandlerin, Enthüllerin und auch Zerstörerin – eine Frau schminkt und maskiert sich in der Garderobe zur Diva, begegnet sich selbst im den Stadien von Alt und Jung und singt als »Traviata« ihr Addio dell passato.
Und noch ein Juwel. Begegnung mit einem Geheimnis, umso schöner, als es sich ziert und nicht preisgibt. Matthias Müller und Christoph Girardet – Duo seit langem, Stammgäste in Oberhausen und noch bis 5. Juni im Skulpturenmuseum Marl als Videokunst-Preisträger ausgestellt – öffnen ihr cineastisches Schmuckkästchen und breiten vor uns aus: eine brillant blitzende Schnur, an der Filmeinstellungen wie Solitäre aufgereiht sind. Augenblicke aus »Kristall«, wie ihre gewohnt hinreißende Montage heißt, die auch nach Cannes zur Semaine de la Critique geladen wurde. Wir sehen Frauen und Männer – Ikonen, Idole, die sich in ihren Räumen, ihren Tränenpalästen wie in einer einzigen eleganten und bestürzenden Dreh- und Wiegebewegung – »Die Unglücklichen ketten sich so gern aneinander« heißt es bei Lessing – dem Fluss der Kamera und der nachträglichen Schnitt-Konstruktion und Manipulation hingeben. Und sich erschrocken umwenden, als sähen sie etwas Furchtbares. Das Schlimmste aber, dessen sie ansichtig werden können, sind sie selbst. Die Ich-Beschau, die Selbstbegegnung wird zum Jekyll-and-Hyde-Erlebnis und zur Vanitas-Erfahrung wie auf einer Allegorie der Melancholie. Zu den sich darstellenden Schattenwesen und Narzissen des Starreigens gehören die Bergman, Crawford, Davis, Garbo, Knef, Loren, Mangano, Moreau, Novak und Taylor, auch der von Cocteau begehrend fotografierte Jean Marais. Der Spiegel ist ihrer aller Requisit. Nach seinem Bild greifen sie, an ihm zerbrechen sie, ihn zerschlagen sie, während der hohe, sirrende, bohrende Ton einer Glasharfe erklingt. Gewalt und Leidenschaft sind in diesem kunstvoll gestalteten Melodram, diesem intimen Drama eines phantastischen Fatalismus Haltung und Handlung.
Eine ähnliche Struktur, nur als abstraktere Found Footage, hat auch »Radar«. Das Video von Volker Schreiner, das am deutschen wie internationalen Wettbewerb teilnimmt, legt im Blendwerk von Lichtkegeln eine Irritationsspur, auf der sich flash-artig Gegenstände abheben. Unter den »Drei Grazien« Optik, Akustik und Schrift, wie sie der gleichnamige, etwas altmodisch Kulturfilm-Klima atmende Animationsfilm vorstellt, indem er Techniken, Maschinen und Instrumente der Wahrnehmung seit Edison und dem Grammophon-Erfinder Berliner auf die Leinwand puzzelt, unter diesen drei Grazien kommt beim Film für gewöhnlich der ersten Dame der Lorbeer zu. Doch in einigen essayistischen Filmen, die Oberhausen präsentiert, ergeben Bild- und Tonebene oft einen Gleichklang. Auch in dem theoretisch ziemlich verspannten »Casio, Seiko, Sheraton, Toyota, Mars« von Sean Snyder (im deutschen und internationalen Wettbewerb) über den westlichkapitalistischen Konsumgüter-Import in ideologisch feindliches Gebiet, dem Irak, und die Rolle von Fotojournalisten bei dem »transformatorischen « Prozess. Da ist man dann dankbar, wieder vertrauten Mustern zu begegnen.
»Boy meets Girl« lautet die kürzeste Formel für das, was zumindest Hollywoods Kino als Story bevorzugt und was bekanntlich Billy Wilder obsessiv bis in seine Träume verfolgt hat. Sie ist nicht nur Thema bei Müller/Girardet. Sie wiederholt sich auch in Petra Schröders Märchen- Musical »Knospen wollen explodieren«, einem knalligen pubertären Wunsch- und Albtraum in opulentem Setting und bevölkert mit Figuren, die das französische schwule Fotografenpaar Pierre et Gilles entworfen haben könnte. Paarprobleme variiert ebenfalls Daniel Nockes sehr komische tierische Animation »Kein Platz für Gerold«, wenn eine Vierer-WG wie in guten alten Alles-Ausdiskutier-Tagen Krisensitzung abhält und das Quartett mit Nashorn, Springbock, Tapir und Krokodil auseinander bricht, weil das grüne Reptil nicht beißt, sondern reißt und deshalb dem vegetarischen Haushalt lästig fällt. Am Ende sagt der allein Verbleibende: »Mach doch mal das Scheißding aus.« Gemeint sind Kameramann und Kamera. Die sind immer dabei, registrierend, kommentierend – und wir mit ihr.
Gegenüber den ästhetisch und experimentell forcierten Proklamationen (zum Beispiel »Das Elend der Angestellten«, das in rotierenden, kippenden, stürzenden Bildern von Baustellen und Autobahnen Gestalt erhält) nehmen sich die Dokumentationen oft lasch aus, auch wenn sich Schnittmengen der Genres ergeben, auch wenn Spielerisches und Reportage sich mischen. Trotz ambitionierter Ansätze ist die inhaltliche Schwäche gelegentlich nicht zu übersehen, bleibt es bei ziemlich privatistischen Situationen, bei »Fragmenten einer Freundschaft« oder Familienporträts, die kaum oder gar nicht über die eigene Befindlichkeit hinausreichen. Stilisierte Bildfindungen für Entfremdung wirken da leicht wie Kitsch. Alltag in Ägypten, Brasilien, Finnland, Malaysia, Mexiko, den Philippinen, nun gut. Aber was sonst? Mehr Improvisation als Komposition.
Dergleichen ist auch im nationalen Wettbewerb anzutreffen: bei dem nicht sehr erhellenden Indischen Tagebuch »Squiggle« oder dem braven Trip eines isländischen Songwriters nach Istanbul (»With you«), bei der banal bleibenden Begegnung zweier gelangweilter Münchnerinnen in einem italienischen Hotel mit serbischen Burschen zur Nachsaison (»Verena Verona«), beim Besuch in den Wohnwaben des Rentner-Silos von »Benidorm« an der Costa Blanca oder in dem etwas nervenden, in seiner kritischen Theorie und selbstreflexiven Haltung nicht immer nachvollziehbaren Reisebericht »Zwei Monate sein« eines iranischen Auswanderers in Teheran, der in seinen besten Momenten an Swifts »Gulliver« erinnern mag. Die Neigung zum Subjektiven wird um den Preis durchgezogen, dass das Erzählte wenig mehr vermittelt als ein Geringes über die Person des Filmemachers.
So sind wir teilnahmslose Teilnehmer an pseudo-naiv geschilderten Therapie-Maßnahmen und anderen Lösungsversuchen für Kommunikations- Probleme (»OT«) oder an einem Beziehungs-Dramolett, »Tango Apasionado«, das die Trennung zweier junger Männer episodisch bemüht nacherzählt. Es gibt nicht mehr zu sagen, wäre das doppeldeutige Resümee.
Internationale Kurzfilmtage Oberhausen, 4. bis 9. Mai 2006; 0208 / 825-2652; www.kurzfilmtage.de