Was ist Raum? Das Einstein-Jahr ist gerade zu Ende gegangen, aber auch vor der Entdeckung der Raum-Zeit-Relativität haben sich Philosophen und Künstler mit dem Problem auseinandergesetzt, was das denn sei, in dem alles sich befindet, das selbst aber in nichts ist. Kann man am Ende der Welt die Hand ausstrecken? Der Aristoteles-Schüler Eudemos stellte um 300 v. Chr. diese Frage, die Samuel Beckett wohl mit Nein beantwortet hätte. In »Square«, dem ersten der experimentellen Fernsehstücke, die der Ire in den 80er Jahren für den Süddeutschen Rundfunk realisierte, eilen erst einer, dann zwei, am Ende vier wie antike Tote Vermummte im Innern eines hellen Bodenquadrats dessen Außenlinien und Diagonalen entlang. Weichen auffällig der markierten Mitte aus und gleiten zurück an die Ränder. Wo einer nach dem andern verschwindet – ins schwarze Nichts.
Becketts Videostücke »Quadrat I + II« sind im Sonderausstellungsraum des Marler Skulpturenmuseums als Dauerlauf an die Wand projiziert, akustisch begleitet vom leisen Tappen der Tänzerfüße und vom lauten der Trommeln, die Beckett als Rhythmusgeber wünschte. In den Filmen lässt der Dichter und Dramatiker, hier längst jenseits der Worte angekommen, durch Bewegung Raum entstehen und wieder verschwinden. Und zwar in der Fläche des Bildschirms. Abseits der Banalität, dass alles, und damit auch jedes Kunstwerk jeder Art, sich im Raum befindet, gibt es Kunstwerke, die sich den Raum zum Problem wählen. Ihnen widmet sich die Ausstellung «. Wobei die Schau das faszinierende amphibische Zwischenland besucht, in dem Skulptur und Tanz ineinander übergehen. Kurator und Museumsdirektor Uwe Rüth berichtet, wie in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts in Rauminstallationen und Performances der Umraum zum immer wichtigeren Bestandteil des Kunstwerks wurde. Wie andererseits dem Tanz (und zwar schon Ende des 19. Jahrhunderts) immer stärkere skulpturale Eigenschaften zuwuchsen, die den tanzenden Körper unsichtbar in den Raum erweiterten, die den Tanz Raum schaffen ließen. Günther Uecker sitzt, vollkommen eingeschwärzt, in einer schwarzen kleinen Kammer.
Nur seine Augäpfel sind zu erkennen. Dann beginnt er, mit weißer Farbe etwas anzumalen: Allmählich manifestieren sich ein Stuhl, ein Tisch, dann Wände – ein Raum. Zuletzt entsteht, als der ZERO-Künstler sich selbst grundiert, darin ein Mensch. Das war 1972 im Museum Folkwang in Essen; in Marl sieht man das Video, den (endweißen) Raumkasten sowie weitere künstlerische Notate dieser Aktion, die ihren Reiz nicht eingebüßt hat. Jede Skulptur ist im Raum und schafft Umraum; in die Bewegung aber will nicht jede. Bei den hier versammelten aber ist genau dieses Bestreben das Entscheidende. So hebt Marino Marinis Skulptur »Danzatore« Blick und Fersen und setzt, stellvertretend für die ganze Ausstellung, zum Sprung an. So lässt Heinz-Günther Pragers Rauminstallation »Kreisen 2/85« Federstahl sich körpergleich rollen und wieder strecken – eine stillgestellte Choreografie. Da hat (der bildende Künstler und Choreograf) VA Wölfl Duchamps und Richters treppesteigenden Akt in den bronzenen Handlauf einer Holzstiege überführt. Während Thomas Fehige einen Minibühnenkasten aufgeschlagen hat, in dem eine in Drähte gespannte Drahtfigur in eine Bewegung zu bringen ist, die Kleists mechanischer Marionettengrazie Hohn spricht. Und Paul Kaiser/Shelley Eshkars faszinierendes Großvideo »Ghostcatching«, das per Bildgebungsverfahren (Motion Capture) die Bewegung vom tanzenden Körper isoliert, holt schließlich den Raum wieder zurück in Fläche und Linie.
Eine sehr spezielle Ausstellung ist dies, klein zwar, aber sehr präzise im Nachzeichnen der diversen künstlerischen Strategien, die zum Pas de deux zwischen Skulptur und Tanz führten. In ihrem zweiten Teil geht die Schau den umgekehrten Weg: Ab 22. Januar ist zu sehen, wie der Tanz der Skulptur begegnet, beispielsweise in einer Dokumentation der legendären Tanzstücke »Im Goldenen Schnitt I und II« von Gerhard Bohner samt den Original-Plastiken dieser Vorführungen aus der Hand von Vera Röhm und Robert Schad. Dann erscheint auch ein Katalog mit Lexikon zum Thema Tanz trifft Skulptur. //
Bis 12. März 2006. Tel.: 02365/99-2257. www.marl.de/skulpturenmuseum. Beckett-Video unter www.medienkunstnetz.de/werke/quadrat/video/1/