Kein Spielfilm von Sidney Lumet, der fatale »Hundstage« inszeniert, sondern ein Tatsachenbericht aus deutschen Innenstädten, von deutschen Straßen und Autobahnraststätten.
Das Klima sei wie bei einem Betriebsausflug, sagt ein Reporter, sagt es ganz nüchtern, ohne Betroffenheit im Ton, aber nennt den gesamten Vorgang auch »zynisch-brutal«. 16. August 1988 – eine Zäsur für die deutsche Medienwelt und die wie unter Rauschmittel gesetzte Öffentlichkeit und ein Desaster wie 16 Jahre zuvor der katastrophal scheiternde Versuch der Befreiung israelischer Geiseln auf dem Flughafen Fürstenfeldbruck während der Olympischen Spiele 1972 in München. »Wahnsinn!« titelt Express. Schlagzeilen sind billig zu haben und teuer erkauft.
Zwei einschlägig bekannte Täter mit Knast-Vergangenheit um die 30 nehmen eine Frau und einen Mann – eine Kundenberaterin und den Kassierer – einer Bankfiliale in Gladbeck als Geiseln und machen sich in einem zur Verfügung gestellten Fluchtwagen, Audi 100, davon. 54 Stunden wird ihr Horrortrip dauern. Volker Heises »Gladbeck«-Chronik besteht komplett aus Originalaufnahmen, in Bild und Ton. Zum eigenständigen Film werden sie durch die Montage. Einen Kommentar gibt es nicht. Das Gezeigte spricht für sich.
Er sei »von Hause aus ein Verbrecher« sagt Hans-Jürgen Rösner, der zusammen mit Dieter Degowski den Coup durchführt. Es sind keine Männer mit analytischem Verstand, Emotion und Gewissen, sondern gering gebildete, vulgäre, durch ihre Dummheit unberechenbar gefährliche Kerle, die sich aus dem gestischen und sprachlichen Repertoire von Kriminalfilmen und Thrillern bedienen, gegen »die Bullen« fluchen, herumballern, sich immer explosiver aufladen und im Verlauf der Stunden mit Alkohol und Drogen abfüllen.
»Wie geht es Ihnen mit der Pistole am Hals?«
Lageberichte, Situationsbeschreibungen, Fragen und Antworten, Kommentierungen, Interviews, Schusswechsel, Todesdrohungen, Verhandlungen, die u.a. ein Fotograf als Bote übernimmt; auch schon mal ein Schwatz mit den Entführern, bei dem es munter und heiter zugeht und man gemeinsam Zigaretten raucht. Die Presse in inniger Kumpanei, die Rösner das Autotelefon reicht für ein Interview, in der anderen Hand hält er die Pistole.
Schaulustige nicht zu knapp, grienend, sensationslüstern oder auch entsetzt, aber trotzdem am Ort. Kameras, Fotoapparate, Mikrofone und Notizblocks immer nah dran, drängend, klickend, als sei man auf der Croisette von Cannes bei einer Filmpremiere. Einer übergibt seine Visitenkarte, »wenn irgend was ist«. Man lässt die Gangster posieren. »Wie war der Kaffee?« lautet eine ernst gemeinte Journalistenfrage. Oder »Wie geht es Ihnen mit der Pistole am Hals?« fragt ein anderer Kollege die 18-jährige blonde Silke Bischoff, die offenbar selbst nicht ganz die Realität des Geschehens erfasst oder sich in der Lage zeigt, diese anzunehmen.
Polizei, Politik und Medien sind überfordert, halten sich raus, agieren unprofessionell oder lassen jede kritische Distanz sausen. Die behördliche Bitte angesichts der Gefahren für die Geiseln, nicht zu berichten, wird nicht befolgt. Während die Polizei zeitweise zum Schutz der Opfer die Fahndung und Verfolgung einstellt, bleibt die Presse live dabei wie als Begleitschutz: Informationspflicht pervertiert.
Chronologie des Versagens
Eine Chronologie des Geschehens und Versagens: Die Fluchtroute durch die Republik führt zunächst Richtung Norden nach Bremen, wie die bewaffneten Gangster, verstärkt um eine Komplizin und Freundin Rösners, einen Linienbus mit 20 Fahrgästen kidnappen, später einige Leute freilassen, sich dann weiter auf den Weg in dem besetzten Bus machen und eine Raststätte ansteuern. Polizisten setzen dort die Komplizin fest, müssen sie wieder freilassen, daraufhin fallen Schüsse, die Verbrecher sind zu Killern geworden und töten den 15 Jahre jungen Emanuele De Giorgi. Der Bus fährt weiter zur niederländischen Grenze und passiert diese. Die Geiseln kommen frei, bis auf zwei, die nun mit dem Täter-Trio on the road sind.
Die Irrfahrt kehrt zurück nach Nordrhein-Westfalen und macht Station in der Fußgängerzone, Köln, Breite Straße nahe beim WDR und dem Kölner Pressehaus. Im Auto-Corso dann weiter. Freiwilliger Neu-Passagier der Chefredakteur einer regionalen Boulevardzeitung. Zugriff auf der Autobahn durch ein Sondereinsatzkommando: zerschossene Autos, mehrere Schwerverwundete, die junge Geisel, Silke Bischoff, tot. Ein Polizeiobermeister starb zuvor unterwegs beim Einsatz durch einen Verkehrsunfall. Beide Geiselnehmer wurden verurteilt, Degowski kam nach 30 Jahren frei, Rösner blieb bislang in Sicherheitsverwahrung, die Komplizin Marion Löblich wurde nach sechs Jahren Haft entlassen. Journalisten ist es seither untersagt, Straftäter während der Tat zu interviewen oder sich eigenmächtig als Vermittler hervorzutun. Das Wort vom ‚Über Leichen gehen’ ist hier keine Metapher.
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