TEXT: STEFANIE STADEL
Zwischen brennenden Wolkenkratzern geht es kopfüber abwärts. Die übergroßen Füße des »Stürzenden« ragen in den tiefblauen Himmel. Seine mächtigen Arme und Hände weisen nach unten, ins ebenso blaue Meer. Max Beckmann malt den frei fallenden oder fliegenden Rückenakt 1950. Den Künstler plagen Depressionen. Er spürt das nahe Ende – wenig später stirbt Beckmann 66-jährig in New York. Ist der isoliert hinabstürzende Mann ein Sinnbild seines Selbst im Weltgefüge? Befindet er sich fallend oder schwebend vielleicht schon auf dem Weg in eine neue Sphäre?
Wie Beckmann so geht auch Fernand Léger damals dem Abschluss seines Schaffens entgegen. Dabei scheint der drei Jahre ältere Franzose jedoch von ganz anderen Gedanken gelenkt. Wie bei Beckmann, so prägen auch in Légers Werkgruppe der »Constructeurs« das Blau des Himmels und moderne Architekturelemente die Szenerie. Doch bietet diese Bühne einem ganz anderen, Optimismus verströmenden Schauspiel Platz: Zupackende Arbeiter bauen gemeinsam und selbstbewusst am Gebäude der Zukunft. Emporsteigend in einer mit den eigenen Händen errichteten Stahlträgerkonstruktion.
Das Nebeneinander dieser nahezu gleichzeitig geschaffenen Spätwerke von Beckmann und Léger verrät vieles über die beiden künstlerischen Individualisten – über ihre so unterschiedliche Sicht des Seins und die zuweilen doch so ähnlichen formal-malerischen Überlegungen. Hier der Grübler, der Skeptiker Beckmann mit seiner metaphysischen Weltdeutung, übermittelt in einer symbolisch verschlüsselten Kunst, die er selbst als »transzendentale Sachlichkeit« kennzeichnet. Dort Léger, der lebensbejahende Visionär, konstruktiv, rational, analytisch und seit den 30er Jahren erfüllt von der Idee, sein Schaffen in den Dienst des Volkes zu stellen.
Ihre Charaktere sind grundverschieden und die künstlerischen Handschriften einzigartig. Trotzdem spricht aus den Werken dieser beiden großen Figurenmaler der Klassischen Moderne immer wieder eine durchaus ähnliche Haltung zu Grundfragen der Malerei. Im Überblick fällt eine Reihe vergleichbarer gestalterischer Lösungen ins Auge: Die schwarzen Konturen in vielen Gemälden, die ausschnitthafte, räumlich gestaffelte Komposition, vor allem die voluminösen Körper, oft formatfüllend ins Bild gesetzt. Zuweilen fehlt ihnen der feste Stand.
Wiederholt waren solche bildkünstlerischen Berührungspunkte aufgefallen, doch schnitten Ausstellungen oder Aufsätze sie allenfalls am Rande an. »Es gibt viele bislang ungeklärte Parallelen zwischen Beckmann und Léger«, so bemerkte 1988 schon Nicholas Serota, Direktor der Londoner Tate Gallery. Jetzt, 17 Jahre später, nimmt sich das Kölner Museum Ludwig des Themas an. In der Schau »Max Beckmann – Fernand Léger. Unerwartete Begegnungen« wird das Paar durch über 70 ausgesuchte Bildbeispiele vertreten.
Geschickt platziert und einander zugeordnet nehmen Werkgruppen und Einzelbilder dort den Dialog auf – einen Dialog, den die beiden Maler persönlich höchstwahrscheinlich nie führten. Denn es ist beinahe ausgeschlossen, dass der Deutsche und der Franzose sich je getroffen oder wissentlich Bezug aufeinander genommen haben. Zwingend scheint ihre nun in Köln inszenierte Begegnung deshalb keineswegs – außerordentlich anregend ist sie dennoch. Und das nicht nur, weil sie die teils prägnanten gestalterischen Übereinstimmungen offenkundig macht. Ebenso aufschlussreich ist das Miteinander, weil es Eigenheiten in Werk und Weltbild von Beckmann und Léger sehr klar und pointiert hervortreten lässt.
Beide Künstler sind qualitätvoll vertreten in der hauseigenen Sammlung. Léger unter anderem mit einem großformatigen Gemälde aus seiner Werkgruppe der »Taucher«. Beckmann besetzt einen eigenen Raum mit über einem Dutzend beachtlicher Arbeiten. Auch wegen dieser guten Präsenz im eigenen Museum habe sich das Doppel angeboten, sagt Stephan Diederich, Kurator in Köln. Zu den Beständen lieh er Gemälde aus großen öffentlichen und privaten Kollektionen in aller Welt. Ein schwieriges und auch kostspieliges Unterfangen, sollte sich die Argumentation doch auf möglichst vielsagende Vergleiche stützen.
Es trifft sich gut, dass zeitgleich zum Kölner Projekt Münster mit einer Léger-Retrospektive lockt. Der Werküberblick im Graphikmuseum Pablo Picasso verfolgt mit fast 100 Druckgrafiken, Zeichnungen, Gemälden, Briefen und einer filmischen Rarität das Œuvre des gelernten Architekten Léger. Der Hausherr Picasso konnte ihn nicht leiden, so heißt es. Denn er hielt den Franzosen für einen Trittbrettfahrer des Kubismus, der bei den heroischen Kämpfen der frühen Jahre nicht dabei gewesen war. Tatsächlich haben Légers künstlerische Anfänge den kubistischen Formexperimenten von Picasso und Georges Braque einiges zu verdanken. Einen schlagenden Beweis dafür liefert in Münster seine »Kompottschale auf einem Tisch« von 1909. Mit den drei Jahre darauf gemalten »Formkontrasten« veranschaulicht die Werkschau Légers Entwicklung hin zu einer ganz eigenen Synthese aus kubistischer Zergliederung und futuristischer Bewegungsästhetik: Zylinder, sphärische Dreiecke und Kuben nehmen ein formales Eigenleben auf – der Literat und Kunstkritiker Guillaume Apollinaire beschreibt es als »zylindrische Malerei«.
Der Erste Weltkrieg wird für Léger wie auch für Beckmann zur einschneidenden Erfahrung, die deutliche Spuren in beider Kunst hinterlässt. Beckmann durchlebt die Gräuel als Sanitäter an der Ostfront und erleidet 1915 einen psychischen Zusammenbruch. Léger erfährt die tödliche Kraft der modernen Kriegsmaschinen im Schützengraben von Verdun: »Die Artillerie beherrscht alles, ungeheuer intelligent, überall treffend, wo es nötig ist, von geradezu erschreckender Regelmäßigkeit«. Münster hat vom Pariser Centre Georges Pompidou die Briefe des Künstler von der Front, seine Handzeichnungen und Postkarten der Kriegsjahre entliehen – eindringlich belegen sie Légers Verfassung. Aus vielen der schriftlichen und bildlichen Dokumente, die der Künstler im hektischen Geschehen zu Papier bringt, sprechen Emotionalität und tiefes Mitgefühl für die Kameraden. Überraschen mag da das spätere Bekenntnis des Künstlers: »Ein offen in der Sonne liegendes Bodenstück einer 75-er Kanone hat mir für meine bildnerische Entwicklung mehr beigebracht als alle Museen der Welt.«
Köln setzt mit seinen vergleichenden Betrachtungen zu Léger und Beckmann nach dem Ersten Weltkrieg ein, genauer in den 20er Jahren. Als beide Maler aus dem Erlebten heraus ihren künstlerischen Weg gefunden haben. Légers typischer Figurenstil ist ausgeprägt, Beckmanns metaphysische Bildsprache begründet. Am Anfang des didaktisch geschickt und ganz auf das vergleichende Sehen hin angelegten Parcours im Museum Ludwig stehen weibliche Figuren. Flächenfüllend sind sie ins Bild gesetzt, ihre körperliche Präsenz betont – bei Beckmann und ebenso bei Léger. Die Ausstrahlung scheint aber fast gegensätzlich. So sieht Beckmann seine weiblichen Gestalten raffiniert, sinnlich, zuweilen erotisch. Monumental, neutral, einfach, allgemein gültig, ja formelhaft wirken sie dagegen bei Léger, als entpersonalisierter Bildgegenstand mit rein formalem Wert.
Ähnliche Beobachtungen macht man in den Paardarstellungen. Die Schau lässt die Eigenheiten nachvollziehbar werden etwa im Arrangement von Beckmanns 1944 gemalter »Messingstadt« neben Légers zehn Jahre älterer Variation zum Thema »Adam und Eva«. Bei dem Franzosen gleichen die biblischen Gestalten archetypischen Objektformen, die gestalterisch eng aufeinander Bezug nehmen. Fast frontal, mit nur leicht einander zugewandten Köpfen stehen Adam und Eva da, ihre Körper bilden einen einheitlichen Block, die erhobenen Arme beschreiben zusammen einen offenen Kreis. Auch Beckmann zeigt die Protagonisten seiner »Messingstadt« räumlich eng verbunden, doch beschreibt er sie viel individueller und das Verhältnis der Geschlechter als zutiefst zwiespältig. Von Schwertern und Lanzen umgeben, scheinen Mann und Frau auf ihrem Bett gefangen. Sie sind einander nahe, wenden sich aber voneinander ab, jedes ist auf sich bezogen. Kälte, vielleicht Verachtung und gegenseitige Unvereinbarkeit sprechen aus dieser symbolisch aufgeladenen Inszenierung.
Hier wie überall verfolgt der Rundgang im Museum Ludwig sein Thema eher assoziativ. Mal zielen die Bildvergleiche stärker auf stilistische Eigenheiten ab, dann wieder werden inhaltliche Überlegungen wichtiger. Mal sind die herangezogenen Werkbeispiele von Léger und Beckmann um die gleiche Zeit entstanden, ein andermal liegen viele Jahre oder gar Jahrzehnte dazwischen. So auch bei den Bildern, die mit Wasser spielen. In Beckmanns »Lido« von 1924 gerät das Geschehen am Strand zum rätselhaft-grotesken Schauspiel: Da gibt es Spaziergänger, die mit Hut und Handtuch fast wie maskiert wirken, und einen Badenden, der merkwürdig hölzern, verwinkelt, wie zerteilt, verkehrt herum in den Wellen hängt. Zu allem erscheinen irgendwo mitten im Getümmel Arme in die Höhe gereckt, als gehörten sie einem Ertrinkenden.
Als Léger bald 20 Jahre später das Motiv des Tauchers aufgreift, dürften ihn sehr ähnliche formale Interessen wie Beckmann bewegen. Er erlebt einige Schwimmer im Hafen von Marseille und ist sofort fasziniert vom bewegten Hin und Her der Körper in den Wellen, wo Arme, Beine, Köpfe verschwinden und wieder auftauchen. Anders als Beckmann konzentriert sich Léger aber in der malerischen Umsetzung des Geschehens weitgehend aufs Formale und fügt die Einzelteile trotz aller Dynamik in eine ausgewogene Gesamtkomposition. Für ihn habe die menschliche Gestalt keine größere Bedeutung als Fahrräder oder Schlüssel, betonte Léger einmal. »All diese Dinge sind für mich bildnerisch gültige Objekte, über die ich nach freiem Ermessen verfüge«.
Malerisch vereinheitlicht und zuweilen auf Fragmente reduziert werden Légers »bildnerische Objekte« zur formalen Einheit gefügt. So auch im »Stillleben mit Arm«, wo Teile einer Obstschale, eines Flügels, einer Vase und ein menschlicher Arm zusammenfinden. Die Kölner Schau kann diesem Gemälde eine in den Bildmitteln überraschend ähnliche Komposition des Kollegen zur Seite stellen. In Beckmanns »Labyrinth« werden ebenfalls Körperfragmente mit objekthaften Elementen vereint. Doch weisen sie weit über sich hinaus – das liegt auf der Hand. Auch wenn es schwer fällt, den symbolischen Hintersinn zu entschlüsseln. Warum ist das Inkarnat der männlichen Büste dunkel, das der weiblichen hell, was soll die Schlange, die dort im Gitter zu erkennen ist, und wie ist das Maskenprofil daneben zu deuten?
Beckmanns Gemälde erinnern nicht selten an Bilderrätsel »Oh wie gut, dass niemand weiß, dass ich Rumpelstilzchen heiß’«, zitiert der Künstler gern und spielt damit auf seine Vorliebe für geheimnisvolle Verrätselungen an, denen eine sehr private, schwer ergründbare Dingsymbolik zu Grunde liegt. Beckmann ist ein Meister der Innenschau, die er auch in seinen zahlreichen Selbstbildnissen gekonnt praktiziert. Bezeichnend ist wiederum, dass Léger sich praktisch niemals persönlich in Szene setzt. Nicht ohne Grund begegnet das 1934 von Beckmann geschaffene »Selbstbildnis mit schwarzer Kappe« in Köln Légers idealisiertem Porträt eines schnurrbärtigen Mechanikers von 1920: Hier das in Situation und Selbstverständnis klar charakterisierte Individuum, dort die nüchtern typisierende Verkörperung des Handwerkers.
Wenn auch in gewandelter Gestalt, begegnet einem Légers idealer Arbeiter 30 Jahre später wieder als »Constructeur«. In den schönsten Farben malt sich der Künstler, inzwischen Mitglied der Kommunistischen Partei, die gemeinschaftliche Arbeit an der Zukunft aus. Offenbar völlig fremd sind solche Ideen für Beckmann: »Man lebt nur für Einzelne in Vergangenheit und Zukunft«, stellte der einmal fest. »Und am allerwichtigsten nur für sich selbst.«
Max Beckmann – Fernand Léger. Unerwartete Begegnungen, Museum Ludwig, Köln, bis 28. August. Tel: 0221/221-26165. www.museenkoeln.de/museum-ludwig
Fernand Léger. Figur – Objekt / Objekt – Figur, Graphikmuseum Pablo Picasso, Münster, bis 14. August. Tel.: 0251/4 14 47-0. www.graphikmuseum-picasso-muenster.de