TEXT: ULRICH DEUTER
Trotz ihrer immensen Größe ist die Jahrhunderthalle in Bochum, Hauptspielort der Ruhrtriennale, ein wirtlicher Ort. Von dem 2003 ihr vorgebauten Längsriegel lasst sich dies nicht behaupten: Karl-Heinz Petzinkas Glas- und Stahlkonstruktion gibt vor, ein zeitgenössisches Präludium zur Industriesinfonie von 1902 zu sein, tatsächlich aber übertönt sie sie, sucht industriezeitliche Technik durch postindustriellen Technizismus zu übertrumpfen. Als Foyer konzipiert und entsprechend möbliert, fehlt es ihr dennoch an Willkommenskultur; die obere Galerie gar hat den Charme einer Flughafen-Lounge, Economy-Klasse.
Ein Ort zum weggehen, keiner für Menschen – was noch mehr für den Vorplatz der Jahrhunderthalle gilt, der mit jeder neuen Triennale-Saison weiter versiegelt und öd gemacht wurde: Kaum jemand flaniert vor Veranstaltungen auf ihm. Zumal das groß tuende Vordach weder vor Sonne schützt noch vor Regen.
Dieses Jahr ist alles anders. Wer die Rampe vom Parkplatz hinaufkommt, um in der Jahrhunderthalle etwa Heiner Goebbels’ »When the moun-tain …« anzusehen, der trifft statt auf die bekannte Zementsteinfläche auf eine Strandburg aus Holz. Direkt hinter der filigran-coolen Fußgängerbrücke in den Westpark wölbt sich parallel eine zweite Überführung: als fröhlich zusammenfrickelte Antithese und baulicher Spottvers auf sie. Rechts daneben und dahinter Trassen aus demselben wilden Material: Transportpaletten – Europaletten, wie man meist sagt –, 5.000 an der Zahl, aneinandergeschraubt und in den Zwischenräumen mit farbigen Lattenstücken passgenau zu einem gigantischen Mondrian-Muster addiert. Auf ihnen nun möchte man gern laufen, hier möchte man verweilen, besonders auf dem Platz, zu dem sich eine der Trassen weitet; möchte da herumschlendern und die immense Handarbeit bewundern, die diese Inkrustation aus roten, blauen, gelben Stäbchen erforderte. So an die 250 Menschen, darunter viele Kinder, haben wochenlang gesägt und geschraubt an »OurCenturY«, dem Triennale-Beitrag von Folke Köbberling und Martin Kaltwasser.
RUHRKULTUR = AUTOKULTUR
Die Mehrheit der Weltbevölkerung lebt heute in Städten, aber diese Städte haben immer weniger mit dem emphatischen Bild gemein, das in Europa von der Stadt existiert: geschlossene Bebauung, zentripetale Ausrichtung, Wechsel von Straße und Platz, Schönheit einzelner Gebäude, menschliche Maße, Überschaubarkeit, Rhythmus. Zwar ist die europäische Stadt noch weit von Mega-Agglomeraten wie Mumbai, Lagos oder Mexico City entfernt, doch bewegt sie sich langsam, vielleicht sogar unaufhaltsam in deren Richtung. Vielmehr, sie wird bewegt, von Finanzinvestoren und dem flüchtigen Gold der Gewerbesteuer verfallenen Stadträten. Wobei jene Drittweltmetropolen den an Gentrifizierung leidenden Städten unseres Kontinents sonderbarerweise etwas voraus haben, ein kleines direktdemo-kratisches Surplus: Dort nehmen sich die Ärmsten der Armen das, was andere weggeworfen haben, und errichten damit auf Arealen, die andere brach liegen lassen, ihr ganz eigenes Dorf in der Stadt, vulgo einen Slum.
Das sind keine erstrebenswerten Zustände, doch gibt es hierzulande so gut wie nichts, was sich den anti-urbanen Partikularinteressen weniger so entgegenstemmte wie dort. Und also ist besonders das Ruhrgebiet zerschnitten von Autobahnen und erdrückt von Shopping Malls, die das bisschen Urbanität unauffindbar machen. »Ruhrkultur = Autokultur«, »Ruhrgebiet = Autoland« steht auf einer Skizze, die das Künstlerpaar Köbberling/Kaltwasser zu Anfang ihrer Planungen anfertigte. Folke Köbberling, 1969 in Kassel, und Martin Kaltwassser, 1965 in Münster geboren, beide in Berlin lebend, sind mittlerweile ein internationales Markenzeichen für stadtplanungskritische künstlerische Interventionen im öffentlichen Raum. Der Konsumismus und seine Bauten, Kameraüberwachung, Autoverkehr sind die Raubtiere, die die Stadt als Beute nehmen. Dagegen setzen sich Köbberling/Kaltwasser mit witzig-erhellenden Temporär-Bauten zur Wehr, Anti-Architektur aus Anti-Materialien, die nichts wert sind oder weggeworfen wurden: 2010 etwa spannten sie über das Berliner Haus der Kulturen der Welt ein Dach, geknüpft aus zehntausenden, nach einem Marathonlauf zurückgebliebenen Plastikbechern. Oder sie bauten aus Holz zwei SUVs der Marke Porsche Cayenne im Moment des Ineinanderkrachens, um »im Totalschaden die vulgäre Anmut« eines solchen Autos sich »vollenden zu lassen«. Eine andere Aktion richtete sich gegen Wegwerfarchitektur, indem ein kleines Holzhaus in Österreich ab- und an einem Felssturz wiederaufgebaut wurde, um es alsdann über den Rand in den Abgrund zu stürzen.
EIN AUTOBAHNDREIECK FÜR FUSSGÄNGER
All dies Mahnzeichen gegen Fehlentwicklungen, aber auch konkrete Hinweise darauf, dass einfache Menschen in ihr Umfeld einzugreifen imstande sind, und dass es dazu nicht viel Geldes bedarf. Viele diese Bau-aktionen haben Köbberling/Kaltwasser mit Ortsansässigen und Betroffenen zusammen durchgeführt, so auch jetzt hier in Bochum für die Ruhrtriennale. »OurCenturY« – Wortspiel mit dem »Jahrhundert« im Namen der Halle und der Oberhausener Mega-Mall CentrO – ist eine Art Autobahndreieck für Fußgänger inklusive zugehörigem Brückenbauwerk sowie Parkareal mit Sitzgelegenheit, womit die zur Kunst nobilitierten Europaletten gleich mehrere Anliegen transportieren: Die hölzerne Riesenskulptur verschiebt die Perspektive auf Gebäude und Gelände und legt neue Achsen unter anderem hinter die Halle, wo eine Restauration samt Terrasse entstanden ist; sie gibt dem Vorplatz der Jahrhunderthalle eine andere, wärmere Temperatur; sie leistet auf sinnlich-ironische Weise Kritik an der so autogeplagten wie -versessenen Ruhrstadt. (Bedauerlicherweise ist die Komplettverkleidung der Brücke mit Holz-resten am Einwand der Statiker gescheitert und das geplante Tor somit ein Torso geblieben.)
Der Ruhrstadt-Autowahn feiert dieweil – Ironie oder Zynismus? – direkt an der Jahrhunderthalle fröhliche Urständ’. Da wo ein Ascheparkplatz all die Jahre ausreichenden und vor allem ästhetisch passenden Parkraum für Triennale-Besucher bot, entsteht just in diesen Wochen ein schickes, neues Gebäude: ein Parkhaus.
Bis 30. September 2012, frei zugänglich. www.ruhrtriennale.de + http://ourcentury.ruhrtriennale.de